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Diesem Gewerkschafter reicht's, nachdem der französische Präsident Öl ins Feuer gegossen hatFoto: Tesson/Abaca Press/ddp images

Immer wieder dreht sich die Präsidentschaft Macrons um die Frage: Wie lässt sich eine Politik gegen den Willen der überwiegenden Mehrheit machen? Obwohl Macrons sogenannte "Reform" des Rentensystems (von der Opposition treffender "Gegenreform" genannt) von drei Viertel der Bevölkerung abgelehnt wird, boxt der französische Präsident sie durch mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Bereits vor drei Jahren war ein erster Anlauf auf heftigen Protest gestoßen (siehe ver.di publik 1_2020). Doch nicht deswegen war das Vorhaben auf Eis gelegt worden, sondern aufgrund des Corona-Lockdowns.

Anfang dieses Jahres tauchte die Rentenreform wieder auf, allerdings unter veränderten politischen Umständen. Seit der Wahl 2022 verfügt Macrons Partei über keine absolute Mehrheit im Parlament, sie muss mit der entschlossenen Opposition des Linksbündnisses NUPES sowie dem rechtspopulistischen Rassemblement National rechnen. Allein die Konservativen Les Républicains mögen Gesetzentwürfen eine Mehrheit sichern – oder auch nicht.

Auch inhaltlich hat sich der Entwurf verändert. Ging es 2020 um die "Vereinfachung" der Rentenansprüche durch die Einführung eines Punktesystems, ist dieses nun aufgegeben worden, weil doch zu kompliziert. Im Mittelpunkt steht jetzt die Anhebung des Eintrittsalters von 62 auf 64 Jahre. Das sei doch harmlos im Vergleich zur deutschen Regelung, hört man hierzulande oft. Umgekehrt wundern sich französische Protestierende, wie widerstandslos die Rente mit 67 hier durchging. Dass es in Deutschland verboten ist, gegen ein solches Gesetz zu streiken, wird mit Unglauben vernommen. Allerdings existiert der Anspruch auf volle Rente mit 64 in Frankreich nicht automatisch. Dafür müssen Beschäftigte 43 Jahre eingezahlt haben. Eine Rente ohne Abschlag unabhängig von der Einzahldauer gibt es auch in Frankreich erst mit 67.

Wer die Beschäftigten verachtet

Zudem fallen viele Sonderregelungen weg, die Beschäftigten in mühseligen oder gefährlichen Berufen eine frühere Verrentung gewährten. Das neue Gesetz trifft zudem am härtesten Niedriglöhner, deren Lebenserwartung ohnehin geringer ist, sowie Frauen, die keine volle Berufsbiografie haben. Zwar wurde von Regierungsvertretern eine Mindestrente von 1.200 Euro brutto versprochen, doch nach genauerer Lektüre des Entwurfs stellt sich heraus, dass die Maßnahme nur in Ausnahmefällen gelten soll.

Vom Eintrittsalter einmal abgesehen geht es um eine prinzipielle Frage, nämlich die weitere Benachteiligung der Arbeit zugunsten des Kapitals. In den letzten Jahren profitierten Großunternehmen in Frankreich von massiven Steuervergünstigungen, infolgedessen fehlen jetzt 52 Milliarden in den Rentenkassen. Und nicht nur die "Reform" an sich zeugt von Verachtung der Beschäftigten, sondern auch die Art, wie sie durchgesetzt wird, nämlich im Schnellverfahren und ohne vorherige Verhandlungen mit den Gewerkschaften.

Folglich und zum ersten Mal seit 13 Jahren schlossen sich alle acht großen Gewerkschaften, moderate wie militante, in einer "Intersyndicale" zusammen, die bis März acht landesweite Streik- und Protesttage organisierte. Mit Riesenerfolg: Mehrere Millionen Menschen nahmen teil. Da sich die Regierung taub stellte, wuchs in vielen Sektoren die Entschlossenheit, "das Land lahmzulegen". Blockiert wurden Raffinerien, Atomkraftwerke, Häfen sowie in Gelbwesten-Tradition Straßen und Kreisverkehre. Strom wurde gezielt abgeschaltet. Schulen und Universitäten blieben zu. Am spektakulärsten ist der unbefristete Streik der Müllabfuhr – ein Beruf, den niemand im Alter ausüben möchte.

In Umfragen sprach sich eine Mehrheit der Franzosen für die Fortsetzung der Streikbewegung aus. Sogar aus dem wirtschaftsliberalen Lager wurde das Gesetz als schlecht konzipiert, teuer und ineffizient kritisiert. Doch offenbar geht es nicht mehr nur um Wirtschaftlichkeit, sondern schlicht um Macrons politisches Überleben. Nicht einmal mehr des Rückhalts der Konservativen sicher, entschied sich dieser am 16. März, das Gesetz ohne parlamentarische Abstimmung zu verabschieden. Das Verfahren ist zwar verfassungskonform, doch nimmt es der Regierung den letzten Anschein der Legitimität.

Kaum wurde die Entscheidung bekannt, gingen in buchstäblich allen Städten Frankreichs Menschen spontan auf die Straße. In den folgenden Tagen taten sich lokale Gewerkschaftssektionen mit Studenten, Gelbwesten und aufgebrachten Bürgern zusammen. Für den 23. März rief die Intersyndicale zu einem weiteren landesweiten Protesttag auf. Noch ist unklar, ob das Gesetz trotz alledem in Kraft treten wird. Als sicher kann aber gelten, dass das Verhältnis zwischen Minderheitsregierung und Bevölkerungsmehrheit endgültig beschädigt ist.

Am 20. März hat die Regierung zwar knapp ein Misstrauensvotum überstanden, rätselhaft ist dennoch, wie die weiteren vier Jahre von Macrons Amtszeit verlaufen sollen. Gewählt worden war er nur, um die rechte Marie Le Pen abzuwehren. Nun wittert diese ihre große Chance, die Früchte des Zorns zu ernten, wobei ihre Partei sich von Protesten und Streiks natürlich fernhält. Doch mag auch das Zusammentreffen auf der Straße von aufrührerischen Jugendlichen, Beschäftigten und Senioren Vorzeichen eines anderen Frühlings sein.