Gewerkschaften als Ausweg

Im April 2022, zwei Monate nach der groß angelegten russischen Invasion, erschien auf der Website der ukrainischen gemeinnützigen Organisation "Soziale Bewegung" eine "schwarze" Arbeitgeberliste. Aktivisten fügten jene Unternehmen und Institutionen hinzu, die die Normen des Arbeitsrechts missbrauchten. Derzeit sind etwa 60 Unternehmen auf der Liste. Einige Fälle wurden vor Gericht – zugunsten der Arbeitnehmer*innen – erfolgreich entschieden.

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Olha VorozhbytFoto: privat

Neben dem Krieg hatten im vergangenen Jahr eine Reihe neuer Gesetze ernsthafte Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt in der Ukraine. Ukrainische Juristen, die sich mit dem Schutz von Arbeitnehmerrechten befassen, sowie Gewerkschaftsaktivisten halten das im März 2022 verabschiedete Gesetz "Über die Organisation der Arbeitsbeziehungen im Hinblick auf das Kriegsrecht" für das ungeheuerlichste. Es erlaubt unter anderem die Aussetzung der Arbeitsbeziehungen während des Kriegsrechts. Für skrupellose Arbeitgeber ist dies eine Gelegenheit, die Bestimmungen des Gesetzes zu missbrauchen.

Genau solche Arbeitgeber nehmen die Aktivisten der "Sozialen Bewegung" in ihre Liste auf. "Die Aussetzung der Arbeitsbeziehungen erfolgte beispielsweise in Bildungseinrichtungen in Sakarpattja (Transkarpatien) oder in Kyjiw in pharmazeutischen Fabriken, die während des Kriegsrechts äußerst notwendige Produkte herstellen. Dies zeigt, dass solche Fälle den Zielen widersprechen, für die dieses Gesetz verabschiedet wurde", erklärt Witalij Dudin, Vorsitzender des Rates der Organisation "Soziale Bewegung". Und deshalb hat seine Organisation neben der "schwarzen Liste" ein spezielles Projekt "Arbeitsschutz" (Trudoborona) ins Leben gerufen, das Beschäftigte rund um die Uhr über ihre Rechte und Schutzmöglichkeiten berät. Aktivisten der Organisation konnten auf diese Weise schon mehr als 100 Menschen helfen. Allerdings wurden nach Dudins Vermutungen aber schon Zehntausende Ukrainer durch das Gesetz geschädigt.

Gewerkschaften können zwar Rechtshilfe leisten, aber es gibt auch für sie Grenzen des Machbaren. "Die Gewerkschaften können einen Juristen oder einen Anwalt kostenlos zur Verfügung stellen. Aber ihre Möglichkeiten werden immer geringer, weil viele Menschen die Gewerkschaften verlassen haben. Viele nehmen nicht mehr an den gewerkschaftlichen Aktivitäten teil, viele sind ins Ausland gegangen. Die Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen sind so dramatisch gesunken. Dies verringert die Fähigkeit der Gewerkschaften, sich den Arbeitgebern zu widersetzen und ihre Mitglieder zu schützen", sagt Dudin. Rechtshilfe könne zudem meist nur in Großstädten geleistet werden, in Kleinstädten haben die Gewerkschaften in der Regel keinen Anwalt oder Juristen.

Bereits im vergangenen Jahr erhielt die Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Laut Umfragen wollen das 90 Prozent der Bürger*innen. Und dieser Umstand könnte die aktuelle Situation bald ändern: Denn für den Beitritt braucht es zuvor Reformen, insbesondere des Arbeitsrechts. Um die Folgen der in diesem Jahr vorgenommenen Änderungen zu überwinden, müssen vor allem radikale Reformen durchgeführt werden. Reformen in nur bestimmten Bereichen, wie dies bis 2022 der Fall gewesen ist, reichen da nicht.

Es gibt also einen Ausweg. Die notwendigen Reformen werden es ermöglichen, den Schutz der Beschäftigten zu stärken. Doch neben der Stärkung der Kontrolle über die Einhaltung des Arbeitsrechts wird es ebenso notwendig sein, den Status der Gewerkschaften zu stärken. Die "Soziale Bewegung" ist ein erster wichtiger Schritt dahin.

Olha Vorozhbyt ist stellvertretende Chef-Redakteurin des ukrainischen Nachrichtenmagazins Ukrajinskyi Tyschden. Seit der Ausgabe 03_2022 schreibt sie regelmäßig für uns ein Update aus der Arbeitswelt in der Ukraine.