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Schloss Bran imitten der KarpatenFoto: Matt Williams-Ellis/Huber Images

Auf dem Weg nach Bran, unweit der Kreisstadt Brașov in den Karpaten von Transsilvanien, kündigt sich die größte Touristenattraktion der Region schon an einem kleinen Souvenirladen an. Rechts neben der Eingangstür hängt eine große Auswahl an Kühlschrankmagneten mit unterschiedlichen Motiven. Auffallend überrepräsentiert, stechen sofort zwei Schreckensgestalten ins Auge: Vlad III., das historische Vorbild Graf Draculas, und Nicolae Ceaușescu, ehemaliger Staatspräsident und kommunistischer Diktator von Rumänien.

Bescheiden greife ich mir zur Erinnerung einen Magneten mit dem Antlitz Vlads III., während die Tochter fünf lächelnde Ceaușescus an sich rafft. "Ich habe einen Kommilitonen", erklärt sie meinen aufgerissenen Augen, "der kocht die Lieblingsgerichte von Diktatoren nach und wird begeistert sein". Die restlichen Magneten sind Mitbringsel für Freund*innen; offenbar hat sich Ceaușescu bei den Millennials über die Jahre den stärkeren Gruselfaktor erarbeiten können als der Vampir Graf Dracula. An der Kasse pariere ich den erstaunten Blick der Verkäuferin mit einem schiefen Lächeln und höre mich sagen: "Sorry for the Ceaușescus...". "Never mind", lächelt die Rumänin und winkt ab.

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Foto: ddp

Ins Land jenseits der Wälder

Wie jährlich rund 33.000 Studierende aus aller Welt verbringt die Tochter im Rahmen des Erasmus-Austausch-Programms der EU ein Semester in Transsilvanien, auch Siebenbürgen genannt. Sie und auch viele Medizinstudierende lernen und leben für ein halbes Jahr in Cluj-Napoca (gesprochen Kluhdsch-Napocka), die zweitgrößte Stadt Rumäniens. Eine gute Gelegenheit, sich bei einem Besuch gemeinsam das Land anzusehen, aus dem immer noch viele Menschen zum Arbeiten in andere Länder ausreisen. Wir aber fahren zur Manelemusik von Ionu Cercels Hit Made in Romania mit einem gemieteten Dacia immer weiter hinein in das "Land jenseits der Wälder", die wörtliche Übersetzung von Transsilvanien.

Während der Fahrt über die freien, frisch asphaltierten Straßen fällt auf, dass hier noch klassische Landwirtschaft betrieben wird. Heuballen punktieren die gelben Stoppelfelder, Traktoren und Pferdewagen rattern ihre Rüben durch die Gegend, nur ab und zu leuchten Biodieselfelder gelb auf, der rote Klatschmohn und Sonnenblumenfelder sorgen für noch mehr Farbe. Dazwischen grasen die Kühe vor dem Gebirgspanorama der Karpaten am Horizont – eine perfekte Idylle.

Der Tochter erzähle ich derweil von der ausgezeichneten Aufnahmequalität des besten Hörspiels meiner Kindheit, "Graf Dracula", erschienen als "Europa"-Langspielplatte, unvergesslich eingesprochen von Hans Paetsch. Keine Verfilmung und kein anderes Hör- oder Theaterspiel von Bram Stokers Roman hat das schaurige Schmatzen beim Vorgang des Pfählens unschuldiger Opfer so gruselig hinbekommen wie dieser westdeutsche Hörspielklassiker, dass es auch beim nächtlichen Hören unter der Bettdecke noch ins Mark der Achtjährigen fuhr.

Selbstbewusst wie Hollywood

Schließlich nähern wir uns Brașov, 30 Fahrminuten von Schloss Bran entfernt. Die Kreisstadt im Südosten von Siebenbürgen ist von den Karpaten umstellt. Nicht verwirren sollten einen die Schilder, auf denen "Corona" steht – so lautet der lateinische Name der Stadt, auf Deutsch Kronstadt. Schon von weitem grüßt sie ihre Besucher selbstbewusst, als sei sie Hollywood persönlich. In Anlehnung an die Filmstadt prangt weithin sichtbar am Berg über der Stadt der Name BRAȘOV in riesigen Lettern.

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Vlad III. im historischen Original (links) und als Dracula-Fälschung (oben)Foto: Ana Nance/Redux/laif

Stadtmittelpunkt ist der Piaţa Sfatului, der Rathausplatz mit dem alten Rathaus Casa Sfatului, das heute als regionales Museum dient. Der belebte Platz ist umgeben von bunt angemalten und frisch renovierten barocken Gebäuden aus der Habsburgerzeit. In der Biserica Neagra, der gotischen Kathedrale am Platz, lohnt neben einem Blick auf Alter und Kirchenschiff ein täglicher Blick auf das Programm. Mehrmals in der Woche werden hier Klassik- und auch Jazzkonzerte gegeben. In den schmalen Gässchen der Altstadt lassen sich viele kleine Hinweise auf die einst prunkverliebte Vergangenheit als Teil der Habsburger Monarchie entdecken, die aber immer mal wieder von den Brutalismus-Bauten der Kommunisten aufgestört werden. Deren düster-funktionale Bauweise stößt bei den Besuchenden heutzutage fast auf ein größeres architektonisches Interesse als die zuckergusssüßen Barockhäuschen aus der österreichisch-ungarischen K.u.K.-Zeit, die für die gesamte Region so typisch sind. Ein Abendessen in oder vor einem der vielen guten Restaurants rund um den Rathausplatz schließlich bringt in der Sommerhitze Bewohner und Besucher der "Stadt unter der Zinne" zusammen.

Am nächsten Tag geht es früh los, damit genug Zeit für den Besuch bei Graf Dracula bleibt. Die 30 Kilometer von Braşov aus sind in einer halben Stunde geschafft und dort angekommen, bekommt man eine Ahnung, wie beliebt dieser Ausflugsort bei den Touristen und auch den Rumänen ist. In den Straßen zum Schloss müssen die Parkplatzwächter auch den Verkehr regeln, so viele Autos drängeln sich in die kleine Ortschaft. Der Fußweg zum Schloss ist gesäumt von Verkaufsständen. Hier kann man rumänische Trachten und jede Menge Klimbim kaufen, aber eigentlich wollen alle nur eine Dracula-Maske.

Der Ort Bran wurde schon 1357 als Törzburg urkundlich erwähnt und stand bis 1427 unter ungarischer Herrschaft. 1377 erlaubte der ungarische König Ludwig der Große den Siebenbürger Sachsen aus Kronstadt, den heutigen Braşovern, den Bau einer Zollburg auf dem Dietrichstein. Die Lage des Schlosses ähnelt dem von Schloss Schwanstein; der gesamte Komplex mit seinen Zinnen und Türmchen und unzähligen engen Treppenaufgängen wurde aus diesem schroffen Felsen gehauen. Regelrecht erfahrbar wird die Geschichte Siebenbürgens und des Schlosses in dem Geschichtsfahrstuhl im Erdgeschoss, der bedeutende Stationen der Historie von der Vergangenheit, aber auch der Zukunft erzählt.

Der Pfähler aus dem Burzenland

Zur Belohnung für den schwierigen Bau des Schlosses wurden die siebenbürgisch-sächsischen Siedler von Törzburg und Kronstadt, dem sogenannten "Burzenland", von den Steuern befreit. Was jedoch den Bewohnern der benachbarten Walachei übel aufstieß und für jede Menge Nachbarschaftsstreit und üble Gerüchte sorgen sollte. Nach dem Ende der ungarischen Herrschaft fielen die osmanischen Streitkräfte über das Land her. Bis der 17-jährige Vlad III. Draculea als Woiwode der Walachei, eine Art Heerführer, das Geschichtsbild betritt.

Der Name Draculea wird heute auf die Mitgliedschaft seines Vaters Vlad II. Dracul im Drachenorden von Kaiser Sigismund zurückgeführt. Der junge Vlad III. verteidigte das Burzenland erfolgreich gegen die Osmanen und damit auch das Schloss, in dem er selbst nur kurze Zeit residierte. Seine sprichwörtliche Grausamkeit aber verschaffte ihm den unsterblichen Ruhm als blutsaugender Graf Dracula. Historische Bilder in den Ausstellungsräumen zeigen ihn munter speisend, während hinter ihm die gepfählten Kreaturen ihren letzten Geist aushauchen. Christen und Muslime gleichermaßen gaben ihm deshalb den Beinamen "Der Pfähler".

Der irische Schriftsteller Bram Stoker und Vater der literarischen Figur Graf Dracula soll das Schloss selbst nie betreten haben. Allerdings ähnelt seine Beschreibung der Aussicht vom Schlossturm der Realität. Eine Ausstellung zu seinen Ehren in den Räumen des Schlosses zeigt auch die akribische Recherche, die Stoker betrieb. Er hatte sich etwa die Ankunftszeiten der Züge genauestens notiert, mit denen sein Romanheld Jonathan Harker in Törzburg anreist.

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Für die Wegzehrung gibt es an den Straßen Obst, Brot und Käse zu kaufenFoto: Jenny Mansch

Mythen und Gerüchte

Und so wird das "Schloss Dracula" neben seinen Steinmauern nur durch Mythen und Gerüchte zusammengehalten – als historisches Schloss, als spannendes Ausflugsziel für Vampirfans, aber vor allem als Projektionsfläche. Denn im Grunde stimmt nichts. Vlad III. war kein Blutsauger, das Schloss nicht sein zu Hause und Bram Stoker hatte nie selbst gesehen, worüber er so erfolgreich schrieb. Die Themen ewiger Schlaf und Wiederauferstehung aber trieben ihn um, seit er als Kind so krank war, dass er nicht gehen und stehen konnte, nach einer mysteriösen Gesundung aber eine Karriere als Athlet und Fußballer in Dublin hinlegte.

Und obwohl all diese historischen Widersprüche gut dokumentiert sind, strömen jährlich die Menschen herbei, um sich in dieser Knoblauch-Fantasie eines Luftschlosses ordentlich mitzugruseln. Das reale Schloss wurde 1920 ein Geschenk der Brașover an Königin Maria, der Gemahlin des letzten rumänischen Königs Ferdinand I. Sie ließ es sanieren und verschiedene deutsche Architekten legten den Garten und einen See an. 1938 ging es an ihre Tochter Ileana, bis es schließlich unter Ceaușescu zur Touristenattraktion umgewidmet wurde.

Auf dem Rückweg nach Cluj-Napoca über Sibiu und Sighișoara schwirrt uns der Kopf. Die Geschichte Rumäniens und Siebenbürgens ist so wechselvoll, man blickt kaum noch durch. Die Besiedelung durch Siebenbürger Sachsen im 12. Jahrhundert, der Barock und der Rokoko Österreich-Ungarns, die Osmanen, die Walachei; schließlich die Kollaboration mit den deutschen Nationalsozialisten unter dem faschistischen General Ion Antonescu, die Rumänien große Gebietsabtretungen kostete. Juden und Roma verfolgte und ermordete er unerbittlich. Insgesamt 270.000 rumänische Juden fielen dem Regime zum Opfer und 11.000 Roma. Trotzdem stößt man hie und da noch auf eine Statue des Generals. Und schließlich das bis heute nachwirkende und kaum aufgearbeitete Trauma durch die Jahre der Gewalt, des Mangels und des Terrors unter der Ceaușescu-Herrschaft.

Die Siebenbürger Sachsen hatte man 1147 aus allen Teilen Deutschlands angeworben, um das durch Grenzverschiebung neu erworbene Land urbar zu machen, es zu bevölkern und wirtschaftlich zu beleben. Auch sollten sie Eindringlinge in das damalige Ungarn abwehren. Insgesamt 13 Städte im Raum Hermannstadt, dem heutigen Sibiu, gründeten die "Sachsen", die eigentlich gar keine waren, sondern aus allen Teilen Deutschlands kamen. Aus Sibiu stammt auch der nationalliberale und umstrittene Klaus Johannis, der aktuell amtierende und bisher einzige Präsident Rumäniens, der der deutschen Minderheit angehört.

Sibiu ist ein malerisches Städtchen, in dem man am zentralen Platz gleich vor der deutschen Schiller-Buchhandlung steht. Hier war Kurt Tucholsky 1918 als Feldpolizist eingesetzt. Kurz bevor Siebenbürgen wieder zu Rumänien gehören sollte, war er begeistert vom deutschen Erbe der Siedler, das sich hier entdecken lässt. Empfohlen seien auch die Museen der Brukenthal-Gruppe. An Sommerabenden dient der Platz Piața Mare oft Tanz-und Musikperformances oder Lichtinstallationen, die die Besucher mit einbinden.

Den Siebenbürger Sachsen räumte man anfangs die weitreichendsten Privilegien ein, die deutschen Siedlern im Osten je gewährt wurden. Verstärkt wurden sie später durch weitere Migrationswellen durch Protestanten und Hutterer. Viele von ihnen kollaborierten später in teils bis heute falsch verstandener Heimatliebe mit den Nazis und flohen nach Kriegsende nach Deutschland und Österreich; viele andere wurden nach Sibirien deportiert.

Von ursprünglich 800.000 Siebenbürger Sachsen vor dem ersten Weltkrieg leben heute noch rund 15.000 Menschen der deutschsprachigen Minderheit in Siebenbürgen. Mit der Aussiedlung in die Bundesrepublik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endete auch die deutsche Kolonisationsgeschichte im Osten.

Ein Halt lohnt sich auch im Städtchen Sighișoara, deutsch Schäßburg, westlich von Sibiu. Hier soll Vlad III. alias Graf Dracula geboren worden sein, worauf in einem Gässchen eine Tafel hinweist. Hier lohnt sich der Aufstieg zur Schäßburg selbst, um einen guten Überblick über Stadt und Land zu bekommen.

Zurück in der Stadt der europäischen Studierenden, Cluj-Napoca, dem alten Klausenburg, ist es Zeit für eine Bilanz. Hier zeigt sich das Land von seiner internationalen, weltoffenen und modernen Seite. Eine Stadtführung erhellt vieles, was man sieht, aber nicht weiß. Etwa die Gruppe von Stelen am Plati Unrii. Sie stehen für die ersten Protestierenden der Revolution von 1989/90, die brutal von den Sicherheitskräften der verhassten Securitate ermordet worden waren, von denen nur wenige je bestraft wurden. Um die Ecke befindet sich auch das hochinteressante jüdische Museum, das am Beispiel einer Familie die Geschichte des rumänischen Judentums interaktiv und sehr berührend darstellt.

Der "Pull-Faktor" Kultur und die Rückkehrerin

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Abends füllen sich die Lokale in der historischen Altstadt von Cluj-NapocaFoto: Jenny Mansch

Und was nimmt die Tochter an Erfahrung mit zurück nach Deutschland? "Für mich war es wirklich interessant, einen Einblick in die osteuropäische Perspektive zu bekommen. Von Deutschland aus erfährt man nicht viel über das Land und wie es tickt. Fast allen gleichaltrigen Rumän*innen, denen ich in Cluj begegnet bin, ist klar, dass sie ins Ausland werden gehen müssen, um eine Zukunft zu haben."

Umso mehr weiß sie zu schätzen, dass die Stadt Cluj in diesem Dilemma auf den "Pull-Faktor" Kultur setzt und auf technische Innovationen, die hier stark und gezielt gefördert werden. Durch die Studierenden hat die Stadt wie viele andere aber auch mit Gentrifizierung und hohen Mieten zu kämpfen.

Und dennoch: Es gibt immer mehr Menschen, die in Rumänien ihre Zukunft sehen und zurückkommen. Zum Beispiel Elena, die Initiatorin des erfolgreichen Electric Castle Festivals in Cluj. Die junge Frau hat in Deutschland und Frankreich gelebt, beide Sprachen spricht sie fließend. Sie sagt: "In anderen EU-Ländern ist alles schon so fertig. Hier in Rumänien ist alles dabei, sich zu entwickeln. Hier kann ich noch mitgestalten und etwas zum Positiven verändern". Deshalb will sie bleiben und beweisen, dass man auch in Cluj-Napoca Karriere machen kann.