Einkommensarmut beginnt dort, wo das monatliche Einkommen bei weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens liegt. Sinkt es unter 50 Prozent, sprechen Wissenschaftler*innen von strenger Armut. In Summen ausgerechnet sind das aktuell für einen Singlehaushalt 1.200 bzw. 1.000 Euro pro Monat. Der Frage, wie es sich im Alltag damit lebt, sind Jan Brülle und Dorothee Spannagel vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung nachgegangen.

Zum einen ging es um Einschränkungen bei alltäglichen Gütern. Von den dauerhaft Armen – also Menschen, die seit mehr als vier Jahren unterhalb der Armutsgrenze leben müssen – können sich 30,7 Prozent kein Auto leisten, 17 Prozent keine neue Kleidung bzw. 5 Prozent keine neuen Schuhe. Beim Heizen mussten sich 2021 in der Heizperiode 4,5 Prozent von ihnen einschränken. Knapp zwei Drittel der dauerhaft Armen gaben an, keinerlei Rücklagen machen zu können. Alle Zahlen beziehen sich auf 2021, also auf die Zeit vor dem Beginn des Krieges in der Ukraine und den Preisanstiegen für Lebensmittel und Energie.

16,7 Prozent der Menschen hierzulande lebten 2022 in Armut, 10,1 Prozent sogar in strenger Armut

Bei einer Befragung im Sommer vergangenen Jahres berichteten insbesondere die als arm geltenden Menschen von wachsenden finanziellen Belastungen. Aber die beiden Forscher*innen stellten auch fest, dass die Angst vor sozialer Ungleichheit mittlerweile weit über die von Einkommensarmut Betroffenen hinausreicht. Reichen, die nach wissenschaftlicher Definition über mehr als das Doppelte des Durchschnittseinkommens verfügen, stellen sich keine Fragen nach Entbehrungen. Ihre Angaben liegen bei deutlich weniger als 1 Prozent, beim Heizen, bei Klamotten oder Schuhen müssen sie sich gar nicht einschränken.

Hinzu kommt, dass die Einkommensarmut in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Daran ändert auch ein leichter Rückgang im vergangenen Jahr nichts. 16,7 Prozent der Menschen hierzulande lebten 2022 in Armut, 10,1 Prozent sogar in strenger Armut. 2010 lagen die beiden Quoten noch bei 14,5 bzw. 7,7 Prozent.

Einige Bevölkerungsgruppen sind überdurchschnittlich von Armut betroffen: Arbeitslose, Minijobber*innen, Ostdeutsche, Frauen, Alleinerziehende, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, Singles und Menschen, deren Schulabschluss maximal einem Hauptschulabschluss entspricht. Einen Grund für den leichten Rückgang im vergangenen Jahr sehen Spannagel und Brülle in den Entlastungsmaßnahmen, die die Politik während der Pandemie auf den Weg gebracht hat, wie Zuschläge für Empfänger von Leistungen aus der Grundsicherung.

Deutlich mehr Sorgen

Doch wie wirkt sich dieser eingeschränkte materielle Spielraum bei dauerhaft armen Menschen aus? Sie machen sich deutlich mehr Sorgen um ihre eigene Situation und ihre Altersversorgung. Knapp ein Drittel von ihnen beschäftigen diese Gedanken – bei den Einkommensreichen liegt die Zahl bei etwa 3 Prozent. Da wundert es nicht, dass die allgemeine Lebenszufriedenheit mit zunehmenden Einkommen steigt.

Auch wird die Wertschätzung, die dauerhaft arme Menschen erfahren, von ihnen als gering wahrgenommen. 24 Prozent geben an, auf sie werde herabgesehen. Bei den zeitweise Armen sind es weniger als 14 Prozent. Bei den Einkommensreichen geben das 3 Prozent der Befragten an. Hingegen nehmen 48 Prozent von ihnen wahr, dass zu ihnen aufgeschaut werde. "Wenn sich Menschen gesellschaftlich nicht mehr wertgeschätzt fühlen und das Vertrauen in das politische System verlieren, dann leidet darunter auch die Demokratie", warnen Brülle und Spannagel.

In ihren Ergebnissen erkennen sie einen Zusammenhang zwischen der Einkommenshöhe und Vertrauen in staatliche und demokratische Institutionen. Unter den Einkommensreichen gibt es nur wenige – deutlich unter 10 Prozent – die der Polizei oder dem Rechtssystem nicht oder wenig vertrauen. Unter den dauerhaft Armen sind es hingegen knapp 22 Prozent (Polizei) beziehungsweise fast 37 Prozent (Rechtssystem).

Ähnlich sieht es bei dem Vertrauen in demokratische Institutionen, etwa dem Bundestag oder Parteien, aus. "Mehr und wirksames politisches Engagement gegen Armut und Ungleichheit ist ein wesentlicher Ansatz, um die Gesellschaft zusammen und funktionsfähig zu halten, gerade in Zeiten großer Veränderungen und der Herausforderung durch Populisten", sagt Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin des WSI, zu den Studienergebnissen.