Ausgabe 03/2025
Das stärkste Seil
Den Beginn des groß angelegten russischen Krieges gegen die Ukraine habe ich im Zug erlebt. Damals, am 24. Februar 2022, befand ich mich in Kyjiw, doch alle meine Termine dort waren mit einem Mal nicht mehr relevant. Und so verbrachte ich den ganzen Tag in mehreren Zügen, um nach Lwiw zurückzukehren. Zehntausende andere Ukrainer fuhren am selben Tag auch mit der Bahn in den Westen, aber nicht um nach Hause zu fahren, sondern um dem Krieg zu entkommen. Allein in den ersten zwei Monaten nach der vollständigen Invasion brachten die Züge der Ukrsalisnytzja (Ukrainische Eisenbahngesellschaft) vier Millionen Menschen an sicherere Orte. In dieser Zeit schienen die Eisenbahner rund um die Uhr zu arbeiten.

In der Ukraine wird heute oft über die Arbeit der Eisenbahn berichtet. Die Menschen sprechen voller Dankbarkeit über das staatliche Unternehmen. Vor kurzem veröffentlichte die ukrainische Journalistin Marichka Paplauskaite ein Buch mit dem Titel "Der Zug kommt pünktlich an. Geschichten von Menschen und Eisenbahnen", in dem sie die Herausforderungen beschreibt, denen sich das Unternehmen und seine Mitarbeiter seit Beginn der russischen Invasion stellen mussten.
Sie haben viel erlebt: Beschuss von Bahnhöfen (fast drei Dutzend von 125 Bahnhöfen sind bereits unter russischen Beschuss geraten), Verlust von Mitarbeitern (etwa 700 wurden getötet, rund 13.000 kämpfen noch an der Front). Obwohl Mitarbeiter der Ukrsalisnytzja weniger von der Mobilisierung in die ukrainische Armee betroffen sind als andere Beschäftigte, schützt es das Unternehmen nicht vor Personalengpässen. Nach Angaben von Oleksij Semerun, dem Vorsitzenden der Eisenbahnergewerkschaft, lag die Quote der unbesetzten Stellen zuletzt bei 15 Prozent. Einer der Gründe dafür sind die niedrigen Löhne. Die beklagen auch andere Eisenbahner, mit denen ich gesprochen habe. Laut der Gewerkschaft liegt das monatliche Durchschnittsgehalt bei der Bahn bei 20.500 UAH (450 €).
"Das Unternehmen folgt dem Passagier"
Gleichzeitig hat die ukrainische Eisenbahn trotz des Krieges, der Verluste und des Personalmangels ihren Service in den letzten dreieinhalb Jahren erheblich verbessert. Für mich, die diese Dienste seit zwanzig Jahren nutzt, ist das bemerkenswert. "Das Unternehmen folgt dem Passagier", sagte mir Wolodymyr, ein Lokführer, als ich ihn fragte, was seiner Meinung nach der Grund für diese Veränderungen ist. Angesichts der Herausforderungen des Krieges, in dem die Eisenbahn mit ihren Zügen aus dem Westen in die Frontregionen zum stärksten Seil geworden ist, das das Land zusammenhält, gibt es in der Tat viel mehr Passagiere und eine viel größere Nachfrage. So eröffnet das Unternehmen jedes Jahr neue Strecken, auch internationale, und verbessert den Service (die Züge fahren schneller, im letzten Jahr wurden Kinderabteile eingeführt, geplant sind integrative Wagen für Menschen, die im Rollstuhl reisen).
Wolodymyr arbeitet in einem Zug, der zwischen verschiedenen Städten in der Westukraine verkehrt. Er sagt, dass in den letzten Jahren die Zahl der Bahnstrecken, die man nutzen könne, um direkt in die Karpaten zu gelangen, deutlich gestiegen sei. Der Grund: Die Karpaten sind heute das einzig sichere und unglaublich schöne Urlaubsziel in der Ukraine. Nicht von russischen Drohnen- und Raketenbeschuss terrorisiert wie der Rest des Landes, bieten die Berge und Täler der Karpaten eine Gelegenheit zur Erholung.
Trotz aller Herausforderungen haben die Züge in der Ukraine selten Verspätung. Und die Eisenbahner erledigen ihre Arbeit oft mit großem Einsatz, auch wenn dieser Einsatz sie das Leben kosten kann.
Olha Vorozhbyt ist stellvertretende Chef-Redakteurin des ukrainischen Nachrichtenmagazins Ukrajinskyi Tyschden. Seit der Ausgabe 03_2022 schreibt sie regelmäßig für uns ein Update aus der Arbeitswelt in der Ukraine.