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Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa
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André Bödecker, Personalrat an der Uni Bremen
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Mathias Hirscher, Personalratsvorsitzender im Jugendamt
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Lehramtsstudentin Saskia Gagel
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Johanna Fischer, Postdoc-Forscherin Uni Bremen

Als ich am Bremer Hauptbahnhof den Zug verlasse und über den Vorplatz laufe, kommt in mir eine vertraute Anspannung hoch. Als junges Mädchen war das hier ein Ort, an dem man schnell in Konflikte geraten konnte: Möchtegern Gangster, die sich Respekt verschaffen wollten, Mädchengruppen, die aus Langeweile nach Stress suchten, und eine offene Drogenszene. Nicht selten wurde man abgezogen, manchmal nur mit einem dummen Spruch bedacht, aber immer mit diesem Druck, gleich könnte etwas passieren. Heute aber stehen hier zwei neue Gebäudekomplexe: Im sogenannten "Tor zur Innenstadt" sind Geschäfte, eine Drogerie sowie Gastronomie untergebracht. Es ist belebt auf dem Vorplatz, an manchen Tagen steht hier eine Suppenküche für Bedürftige.

Rückblickend wird mir klar, wie rau Bremen an vielen Ecken war – und noch heute ist. Eine Stadt, in der Armut nicht am Rand, sondern mitten im Alltag sichtbar ist. Fast jedes dritte Kind wächst hier in einer Familie mit Sozialleistungen auf, in Stadtteilen wie Tenever oder Gröpelingen ist es jedes zweite. Im Pisa-Ranking landet das Land regelmäßig auf den hintersten Plätzen, und auch das Gesundheitssystem steht unter Druck: Personalmangel in den Krankenhäusern, lange Wartezeiten in Arztpraxen. Bremen ist ein Stadtstaat der Gegensätze – weltoffen, etwas "öko" und mit einem hohen Anteil an ehrenamtlichem Engagement, aber zugleich zermürbt von struktureller Armut, hoher Arbeitslosigkeit und einer notorisch leeren Stadtkasse.

Dass ich später selbst in der Jugendhilfe gearbeitet habe – zwei Jahre lang in einer Unterkunft für unbegleitete minderjährige Geflüchtete – hat meinen Blick geschärft. Was mir damals begegnete, war keine abstrakte Statistik, sondern harte Realität: Jugendliche ohne Eltern, ohne Halt, oft traumatisiert. Dazu eine überlastete Verwaltung, die kaum hinterherkam, und Einrichtungen, die mit dem Nötigsten improvisierten. Im Alltag spürte man, was es heißt, wenn das System brüchig wird.

Und so wirkt Bremen wie ein Brennglas: Armut, Bildungsungleichheit, Fachkräftemangel, Überlastung der Sozialsysteme – alles ballt sich hier. Wenn man verstehen will, warum die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst der Länder so entscheidend sind, dann ist diese Stadt ein Schlüssel.

Jugendhilfe am Limit

Massiv unter Druck steht die Kinder- und Jugendhilfe. Besonders deutlich wird das im Fachdienst Amtsvormundschaft beim Amt für Soziale Dienste. Dort übernehmen Amtsvormünder*innen die elterliche Sorge für Kinder und Jugendliche, deren Eltern dazu nicht in der Lage sind – etwa, weil sie sucht- oder psychisch krank sind, ihre Kinder misshandeln, im Gefängnis sitzen oder verstorben sind. Eine große Gruppe sind auch unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die oft schwer traumatisiert sind.

"Der schlimmste Punkt ist eigentlich, wenn die Fallzahlen zu hoch sind", sagt Martina Bartels, Mitglied im Gesamtpersonalrat Bremen, Mitte September auf der ver.di-Kundgebung "Wer hilft noch, bevor das Kind in den Brunnen fällt?" Vor dem Dienstsitz des Senators für Finanzen, zwischen Bannern und Transparenten schildert mir die ehemalige Abschnittsleiterin im Fachdienst für Amtsvormundschaft die Lage: "Man muss sich vorstellen, man hat 50 Kinder – die gesetzliche Höchstgrenze – zu versorgen. Wir haben die volle Sorge als ,an Eltern statt'. Das heißt, man hat alle Verantwortungsbereiche und haftet mitunter auch, wenn es nachweislich fahrlässig ist."

Spätestens seit dem Fall Kevin weiß Bremen, was das bedeutet. Der zweijährige Junge starb 2006 in einer verwahrlosten Wohnung, weil sein Vormund ihn über Monate nicht mehr gesehen hatte. Der Amtsvormund hatte damals nach eigenen Angaben im Schnitt 240 Fälle zu betreuen – ein extremes Beispiel dafür, wie lebensgefährlich Überlastung werden kann.

Auch Mathias Hirscher, ver.di-Personalratsvorsitzender und früher selbst Sozialarbeiter im Jugendamt, verweist am Rande der Kundgebung auf Kevin: "Der Fall ist insofern bemerkenswert, weil ganz viele Menschen von ihm wussten. Sogar der damalige Bürgermeister. Am Ende blieb das Jugendamt unten in der Hackordnung und Kevin starb." Für die Beschäftigten ist die Angst bis heute real: "Paragraf 8a SGB VIII regelt das. Alle, die mit Kindern zu tun haben, hängen mit drin in der Verantwortung."

Wie das heute aussieht, beschreibt Hirscher so: "Da geht eine Meldung ein, meinetwegen eine Polizeimeldung oder der Kindergarten meldet sich. Zwei Kolleg*innen gehen los, gucken, was vor Ort los ist. Verwahrloste Zustände, Eltern unter Drogen – alles möglich." Kommt es zu einer Inobhutnahme, stoßen sie sofort an Grenzen: "Wir haben eine Inobhutnahme-Stelle in Bremen, die ist seit geraumer Zeit ausgebucht."

Ich erinnere mich gut an meine eigene Zeit in der Bremer Jugendhilfe: Eines Tages stand plötzlich ein deutscher Jugendlicher in der Unterkunft für Geflüchtete, in der ich arbeitete. Eigentlich hätte er in einer regulären Inobhutnahme-Stelle untergebracht werden müssen, doch dort war längst kein Platz mehr. Also zog er zwischen junge Syrer und Afghanen, die selbst kaum wussten, wie es für sie weitergeht. Eine Notlösung, die für alle Beteiligten schwierig war – und zugleich sinnbildlich dafür, wie das System an seine Grenzen stößt. "Genau so", sagt Hirscher energisch, "das soll eigentlich nicht sein, aber aus der Not heraus passiert das dann."

Die Belastung für die Fachkräfte ist enorm – fachlich wie psychisch. "Die große Gefahr ist, dass die Kolleg*innen in Situationen kommen, wo sie nicht wissen, was sie erwartet." Das kann sie selbst traumatisieren. Supervision gebe es zwar, "zehn Termine im Jahr", aber der "Krankenstand ist atemberaubend". Viele schleppten eine "Bugwelle" an Fällen vor sich her: "40 laufende Fälle – man muss immer gucken, dass die Bälle in der Luft bleiben." Präventive Hilfen fielen hinten runter: "Dabei wären Präventivmaßnahmen Gold wert."

Das Kind nicht fallen lassen

Die Sonne scheint, als die ersten Redner*innen vor dem Finanzressort auftreten. In der Mitte des Platzes steht ein gebastelter Brunnen aus Pappe und Schaumstoff. Darauf lehnt eine Puppe, die ein Kind darstellen soll – ein mahnendes Bild für das Motto des Tages. Nach einer halben Stunde kippt das Wetter. Böen reißen immer wieder an den Bannern. Der Himmel zieht zu. Schließlich fegt eine Windböe so stark über den Platz, dass der Brunnen wackelt und die Puppe ins Straucheln gerät. Für einen Moment sieht es so aus, als würde das Kind wirklich in den Brunnen fallen.

"Die Frage ist: Wo wird Geld verteilt – und wo nicht", ruft Markus Westermann, Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Bremen-Nordniedersachsen, ins Mikrofon, während er die Blätter seiner Rede festklemmt. "Wir sind heute hier, um deutlich zu machen, dass im sozialen Bereich, in der Kinder- und Jugendhilfe, wesentlich mehr Geld verteilt werden muss."

Als Dr. Martin Hagen ans Mikrofon tritt, müssen sich die Kundgebungsteilnehmenden richtig in den Wind stemmen, um nicht ins Straucheln zu geraten. Der Vertreter des Senats beschreibt die angespannte Haushaltslage, betont aber, dass die Kinder- und Jugendhilfe politisch priorisiert werde – mehr Studiengänge für Fachkräfte, zusätzlicher Kita-Ausbau, Aufstockung der Beratungsstellen. "Wir stehen hinter Ihnen", ruft er den Beschäftigten zu. "Wir stehen auch mit Ihnen im Wind." Doch viele winken ab. Zu oft haben sie erlebt, dass Versprechen gemacht, aber nicht eingehalten wurden.

Kinderarmut trifft Fachkräftemangel

Kaum eine andere Stadt steht so unter Druck wie Bremen: Nirgendwo sonst ist das Risiko für Kinder, in Armut aufzuwachsen, so hoch. Gleichzeitig fehlen tausende Kita-Plätze. 2.500 Beschäftigte arbeiten in den Einrichtungen von KiTa Bremen, weitere 1.500 bei freien Trägern (AWO, DRK, Kirchen etc.). Aber das reicht nicht. In den letzten Jahren sind die Kinderzahlen um 20 Prozent gestiegen. Laut Auskunft des Bremer Senats für Kinder und Bildung werden bis 2030 voraussichtlich 1.500 Erzieher*innen fehlen.

Hinzu kommt die besondere Rolle der Kitas: Sie sind nicht nur Betreuungseinrichtungen, sondern Schlüssel für Armutsprävention und Bildungsgerechtigkeit. Doch genau hier wird gespart, Stellen bleiben unbesetzt, Standards werden gesenkt.

"Da ruft eine Mutter beim Jugendamt an – was schon eine Riesenhürde ist – und wird abgewimmelt mit den Worten: 'Sie haben ja schon vier Kinder, dann brauchen Sie ja keine Hilfe.'" Erzieherin Janin, die in einer Kita arbeitet, erzählt das, während sie sich mit Kolleg*innen auf der Kundgebung solidarisiert. Sie wirkt immer noch fassungslos, wenn sie diese Szene schildert. "Die Mutter war völlig verzweifelt, sie brauchte dringend Familienhilfe, etwas Struktur im Alltag. Aber sie wurde einfach abgespeist. Am Ende wird das Kind in der Schule auffallen, und dann heißt es wieder: Wer ist schuld?"

"Seit 1. September dürfen ungelernte Kräfte in Kitas arbeiten. Das Fachkräftegebot gilt nicht mehr. Und gleichzeitig hat man das erfolgreiche Ausbildungsprogramm PIA eingestellt. Wer so handelt, will gar keine hochqualifizierten Erzieherinnen mehr – sondern billigere."
Karolina Soszynski, Personalrätin bei KiTa Bremen

Was im Amt nicht aufgefangen wird, landet früher oder später in den Kitas – die selbst seit Jahren am Limit arbeiten. Über die Hälfte der Fachkräfte ist inzwischen in Teilzeit, viele haben den Beruf ganz verlassen. Karolina Soszynski, Personalrätin bei KiTa Bremen, spricht von einem "kleinen Kürzungsprogramm": "Seit dem 1. September dürfen ungelernte Kräfte in Kitas arbeiten. Das Fachkräftegebot gilt nicht mehr. Und gleichzeitig hat man das erfolgreiche Ausbildungsprogramm PIA eingestellt. Wer so handelt, will gar keine hochqualifizierten Erzieherinnen mehr – sondern billigere."

Was im neuen Bremer Kinderförderungsgesetz (BremKG) als "Entschärfung" verkauft wird, bedeutet in der Praxis: größere Gruppen, weniger Personal pro Kind, weniger Förderung, chronischer Personalmangel. Krankheitsausfälle reißen weitere Löcher in die Dienstpläne. Notgruppen, verkürzte Öffnungszeiten, lange Wartelisten sind Alltag.

Das hat konkrete Folgen für die Kinder: "In einer Gruppe mit 20 Kindern haben oft elf oder mehr einen anerkannten Förderbedarf- und dafür stehen im besten Fall zwei Erzieher*innen. Da kann man nicht mehr von Förderung sprechen", sagt Soszynski.

In Bremen gilt in kommunalen Kitas der TVöD, bei freien Trägern meist in Anwendungstarifverträgen der TV-L. Momentan wird nach dem Tarifvertrag für den Bund und die Kommunen (TVöD) besser bezahlt, der Tarifvertrag der Länder (TV-L) hinkt hinterher. Für die Beschäftigten ist das ungerecht, was ver.di immer wieder thematisiert. Wer kann, wechselt natürlich in den TVöD oder wegen der Überlastung gleich den Beruf. Doch selbst dort, wo Fachkräfte bleiben, verschärfen politische Entscheidungen die Misere.

Prekäre Wissenschaft und studentische Arbeit

Vom Bremer Bahnhof sind es nur ein paar Stationen mit der Straßenbahn bis zur Universität. Die Uni Bremen ist kein klassischer Campus mit roten Backsteinfassaden oder herrschaftlichen Fakultätsgebäuden. Stattdessen reihen sich Betonklötze aneinander, verbunden durch überdachte Gänge, in denen man sich leicht verläuft. Das Hauptgebäude, das GW2, wirkt wie ein gigantisches Labyrinth – ein Relikt der 1970er Jahre, pragmatisch hochgezogen, um möglichst schnell Raum für die Massen-Uni zu schaffen. Fensterbänder, graue Flure, Treppenhäuser, die auf halber Etage ins Nichts führen – fast alles wirkt ein bisschen improvisiert. Und doch hat diese Architektur etwas Ehrliches: Sie zeigt, dass hier kein Elfenbeinturm steht, sondern eine Arbeiteruni.

Ich habe hier selbst studiert, saß in den Seminarräumen, die heute noch die gleiche Mischung aus Automatenkaffee und Überlastung ausdünsten. Missstände, die bundesweit an Hochschulen herrschen, sind hier besonders sichtbar. Studentische Hilfskräfte (SHK), wissenschaftliche Mitarbeite-r*innen und das Technik- und Verwaltungspersonal halten den Betrieb am Laufen – und doch arbeiten sie oft unter Bedingungen, die mehr an eine Dauerkrise als an eine Hochschule des 21. Jahrhunderts erinnern.

Bundesweit bilden studentische Beschäftigte mit rund 200.000 Jobs die größte Tariflücke im öffentlichen Dienst: Seit über 40 Jahren sind sie vom Tarifvertrag der Länder ausgenommen. Verträge laufen im Schnitt nicht einmal ein halbes Jahr, Kettenbefristungen sind die Regel, unbezahlte Arbeit und fehlende Urlaubsansprüche Alltag. Die Bremer Studie "Jung, akademisch, prekär?" hat diese Zustände 2023 detailliert dokumentiert. Hier, wo die Probleme so klar auf dem Tisch liegen, hat die Landesregierung einen Tarifvertrag für Studierende – den "TVStud" – sogar in den Koalitionsvertrag geschrieben. Umgesetzt ist er bis heute nicht.

Wir sitzen auf den schon ein wenig durchgesessen roten Ledersofas im GW2. Hier, im Herzstück der Uni Bremen, wo täglich Studierende, Dozierende und Beschäftigte ein- und ausgehen, schildert Lehramtsstudentin Saskia Gagel, was sie zermürbt. Sie kennt die Realität studentischer Beschäftigung aus eigener Erfahrung: Mal ein Zweimonatsvertrag, mal drei Monate – dann wieder gar nichts. "Ich hatte schon drei verschiedene SHK-Stellen in einem Semester", erzählt sie. "Das klingt nach viel Arbeit, war aber vor allem viel Rechnerei: Stunden zusammenzählen, BAföG-Grenzen im Blick behalten, hoffen, dass sich Krankenkasse und Job nicht in die Quere kommen."

"Man weiß nie, ob es im nächsten Semester weitergeht. Und wenn dann noch die Rückmeldung der Dozentin ausbleibt, ob überhaupt eine Finanzierung für diese Stelle da ist, sitzt du plötzlich ohne Einkommen da."
Lehramtsstudentin Saskia Gagel

Was auf dem Papier nach Qualifikation aussieht – Tutorien geben, Studierende im Laborpraktikum begleiten, Einführung von Studienanfänger*innen – bedeutet für sie ein Leben im Dauerprovisorium. "Man weiß nie, ob es im nächsten Semester weitergeht. Und wenn dann noch die Rückmeldung der Dozentin ausbleibt, ob überhaupt eine Finanzierung für diese Stelle da ist, sitzt du plötzlich ohne Einkommen da."

Saskia sagt, dass ihre Verträge meist über 30 oder 50 Stunden für zwei Monate laufen. Diese Zeit muss sie selbst aufteilen. "Im Schnitt hatte ich vier Stunden Präsenz pro Woche, plus eine Stunde für Vor- und Nachbereitung. Alles andere läuft auf eigene Kosten."

Selbst die Basics sind nicht sicher. "Einmal wurde mein Lohn einfach nicht ausgezahlt. Und keiner wusste, wer eigentlich zuständig ist. Am Ende habe ich mich tagelang durchgefragt, bis sich endlich jemand verantwortlich fühlte und mein Geld überwiesen wurde." Für Saskia bedeutet die Situation: keine Planbarkeit, kein Sicherheitsnetz.

Selbstausbeutung vorausgesetzt

Für die Postdoc-Forscherin Johanna Fischer bedeutet Arbeit an der Uni Bremen: Immer auf der Kippe stehen. "Mein zweiter Vertrag wurde am 18. Dezember unterschrieben – Beginn war der 1. Januar. Ich saß kurz vor Weihnachten da und wusste nicht, ob ich im neuen Jahr überhaupt noch einen Job habe."

Auch das kein Einzelfall, sondern System. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz erlaubt Befristungen über zwölf Jahre: sechs vor, sechs nach der Promotion. Danach ist Schluss – wer bis dahin keine Professur hat, fällt aus dem System. "Es ist eine Struktur, die Selbstausbeutung geradezu voraussetzt", sagt Fischer. Schon in ihrer Promotion arbeitete sie faktisch Vollzeit, bezahlt wurde sie aber nur mit 65 Prozent. "Ich habe mehr als 100 Prozent gearbeitet – und trotzdem nur zwei Drittel des Gehalts bekommen."

"Viele Aufgaben, die eigentlich Verwaltungsangestellte machen sollten, landen bei uns Wissenschaftler*innen." Reiseanträge stellen, Abrechnungen prüfen, Räume buchen, Protokolle schreiben – Dinge, die sie neben Lehre und Forschung erledigt, weil es an Personal mangelt.

Unter dem Nimbus des "wissenschaftlichen Arbeitens" sind Vertragsbedingungen üblich, die Selbstausbeutung fast selbstverständlich machen. "Man lernt von Beginn an, wie in der Wissenschaft gearbeitet wird – und macht das alles so mit." Selbst wer erfolgreich promoviert, fleißig publiziert und Drittmittel einwirbt, bleibt von einem befristeten Vertrag zum nächsten abhängig. Eine planbare Zukunft? Fehlanzeige. "Man baut Lehrveranstaltungen auf, steckt Jahre in Projekte, und nach zwei oder drei Jahren ist wieder alles vorbei." Diese kurzen Verträge, auch bei den studentischen Hilfskräften, zerstören jede Verbindlichkeit, verhindern den Aufbau von Strukturen.

"Auch für Gewerkschaftsarbeit ist das ein echtes Hindernis. Jede Struktur, die du aufbaust, bricht schnell wieder weg", sagt André Bödecker, ver.di-Personalrat an der Uni Bremen. Er kennt das System von innen – und er kennt die Spielräume. "Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz erlaubt Kettenbefristungen. Aber wie man sie umsetzt, liegt an den Hochschulen. Man könnte Jahresverträge als Regelfall durchsetzen – doch stattdessen werden in Bremen oft deutlich kürzere Verträge angeboten. Als Interessenvertretung auch für die SHKs sind wir dran, aber die schiere Anzahl dieser Verträge ist eine Herausforderung."

Bödecker hat einen unverstellten Blick auf die Lage: "Wir bilden bundesweit das Schlusslicht. Auf zwei Wissenschaftler*innen kommt hier nur eine Person in Technik und Verwaltung – anderswo liegt das Verhältnis bei eins zu eins." Die Folgen: Wissenschaftliche Mitarbeiter*innen müssen Verwaltungsaufgaben übernehmen, die eigentlich festangestelltes Personal leisten sollte. Gleichzeitig werden Lücken mit studentischen Hilfskräften gestopft. "Bis vor kurzem lag ihr Lohn sogar unter dem Mindestlohn." Doch für Bödecker ist klar: "Dauertätigkeiten gehören in Dauerstellen – nicht an Hilfskräfte, die nach zwei Monaten wieder raus sind."

Besonders bitter findet er den aktuellen Entwurf für den Wissenschaftsplan 2030 des Landes Bremen. Auf über 140 Seiten komme die Beschäftigtengruppe Technik und Verwaltung genau einmal vor – in einem Nebensatz. "Das ist blanke Geringschätzung. Dabei müsste jeder wissen: Wenn diese Leute eine Woche lang die Arbeit niederlegen würden, würde hier gar nichts mehr laufen. Man käme nicht mal ins Gebäude."

So wird die Uni Bremen zum Spiegelbild: prekäre Studijobs, überarbeitete Wissenschaftler*innen, ein ausgedünnter Verwaltungsapparat. Offiziell gilt die Uni als "Exzellenzstandort". Doch hinter den Kulissen zeigt sich derselbe Mechanismus wie im Rest der Stadt: Sparlogik, Unsicherheit – und ein System, das von der Selbstausbeutung seiner Beschäftigten lebt.

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