Ausgabe 06/2025
Botox für die Gewerkschaft
Fast jedes zweite neue Mitglied ist heute unter 35. Die „Neuen“ bringen frische Perspektiven und neue Formen des Aktivismus mit – von Meme-Kampagnen, bis Reddit-Vernetzung und Boots-Protesten. Sie kamen aus Wut, Neugier oder Solidarität – und sind geblieben. Sechs junge Mitglieder erzählen, was sie bewegt, was sie überrascht hat – und wie es sich anfühlt, plötzlich mittendrin zu sein statt nur nebenher zu scrollen.

Alexandra (35), Content-Moderatorin PUSH bei TikTok Germany, Berlin
Ich bin in Flörsheim bei Frankfurt geboren, meine Eltern kommen aus Chile. Seit 2021 arbeite ich bei TikTok als Content-Moderatorin.
Mit der Gewerkschaft hatte ich anfangs nichts am Hut. Ich kannte das Prinzip, aber im Homeoffice war das irgendwie alles so weit weg. In Chile war mein Onkel Gewerkschaftsmitglied, aber alles, was politisch links oder sozialistisch war, wurde damals verfolgt. Deshalb habe ich lange gezögert, irgendwo Mitglied zu werden.
"La-Ola-Wellen finde ich etwas aus der Zeit gefallen. Kreativität im Arbeitskampf ist wichtig - unsere Memes waren witzig, kritisch und wirksam."
Mein erster Kontakt zu ver.di kam dann kurz vor der Umstrukturierung bei TikTok. Ein Kollege, Ersatzmitglied im Betriebsrat, meinte immer wieder: "Meld' dich an, das schadet dir nicht." Als klar war, dass Kündigungen tatsächlich kommen, habe ich mich rückwirkend angemeldet – und gleich mein Team motiviert, das auch zu tun. Viele fragten: "Warum jetzt noch?" Ich sagte: "Gerade jetzt! Damit wir geschlossen auftreten und uns nicht alles gefallen lassen."
Klar, anfangs dachte ich auch: "Ich zahle meinen Beitrag, sollen die bei ver.di mal machen." Dann habe ich aber verstanden: "Gewerkschaft heißt nicht, dass andere für mich kämpfen, sondern dass ich lerne, es selbst zu tun – mit Unterstützung." Das hat mich verändert. Ich setze mich heute mit Arbeitsrecht auseinander und weiß besser, welche Rechte ich habe.
Wir haben zum Beispiel zu festen Uhrzeiten Nachrichten und Memes im internen Chat gepostet: unsere Reaktionen auf die Kündigungsmail. Dazu haben wir die drei Shareholder immer vertagged und privat "angepingt" – 150 Nachrichten gleichzeitig, das konnte niemand übersehen. Für viele war das der Moment, in dem der Spirit von zivilem Ungehorsam aufkam.
Sowas wie La-Ola-Wellen finde ich aus der Zeit gefallen. Jüngere Mitglieder haben nicht schlechtere Ideen. Kreativität im Arbeitskampf ist wichtig – unsere Memes waren witzig, kritisch und wirksam. Aus Ungerechtigkeit ist Engagement geworden. Früher war ich politisch interessiert, aber nie organisiert – jetzt merke ich, wie erfüllend das ist.

Ganimete (39), Reinigungskraft in der Charité, CFM Berlin
Ich habe vier Kinder. Mein Sohn und meine zweite Tochter fanden es gut, als ich mich gewerkschaftlich engagiert habe – sie sagten: "Mama, gut, dass du das machst." Meine Tochter macht gerade eine Ausbildung zur Pflegefachkraft, sie weiß, was das bedeutet. Mein Mann dagegen hatte viele Fragezeichen – er hatte Sorge, dass ich durch den Streik Nachteile im Job bekomme.
Später, als er die Videos von der Konferenz sah, auf der ich eine Rede gehalten habe – das war bei der Rosa-Luxemburg-Veranstaltung, einem großen Gewerkschaftstreffen – hatte er Tränen in den Augen. Ich sprach dort vor etwa 2.000 Menschen.
Ich arbeite seit 2013 in der Charité, im Facility Management, also der Reinigung der Stationen. Ich reinige Patientenzimmer, Betten, Nachttische, Toiletten, entsorge Müll, wechsle Wäschesäcke, fülle Seife, Desinfektion, Hand- und Toilettenpapier auf. Es muss hygienisch und ordentlich sein, damit sich Patient*innen wohlfühlen. Und es ist auch wichtig für die Pflegekräfte – sie brauchen einen sauberen Arbeitsplatz, damit sie ihren Job machen können.
Mein erster Kontakt mit der Gewerkschaft kam über die "Pausentreffen", die als Vorbereitung für den Streik zur Tarifrunde der CFM stattfanden. Im Dezember sagte ich zu meiner Kollegin Schukran: "Ich will diesmal mitmachen beim Streik. Und ich will Mitglied werden – für mehr Sicherheit und Schutz."
"Da hat sich einfach etwas in mir angestaut, in meiner Brust gebrannt. Zu Hause spare ich Energie, damit ich auf der Arbeit alles geben kann."
Da hat sich einfach etwas in mir angestaut, in meiner Brust gebrannt. Ich arbeite hart, gebe mir Mühe. Zu Hause spare ich Energie, damit ich auf der Arbeit alles geben kann.
Es ging mir um mehr Wertschätzung und Gerechtigkeit. Wir sind genauso wichtig wie alle im Krankenhaus – Professorinnen, Ärztinnen, Pflegerinnen, Direktorinnen. Manchmal wurde man wie eine Person zweiter Klasse behandelt. Aber ohne uns läuft es nicht. Und ohne die anderen auch nicht.
Es war hart, wir waren wochenlang im Streik. Einmal traf ich meine Teamleiterin auf dem Parkplatz und sie fragte: "Na Ganimete, kommst du auch mal wieder arbeiten?" Ich sagte: "Ich komme wieder, wenn wir hier fertig sind." Wir lachten beide. Ich blieb einen Monat durchgehend im Streik. Mit Erfolg. Ich bin sehr stolz.
Warum ich bei ver.di bleibe? Weil es weitergeht. 2027 kämpfen wir wieder – diesmal für die Pflegekräfte im öffentlichen Dienst. Das ist Solidarität: Sie haben uns unterstützt, jetzt unterstützen wir sie.

Mareike (34), Zollabteilung von DHL Express bei DHL Hub Leipzig
Ich arbeite im DHL-Hub Leipzig, also in diesem riesigen Drehkreuz, wo 24 Stunden am Tag alle Pakete reinkommen, die dann auf Europa verteilt werden.
Vor DHL hatte ich einen kurzen Studentenjob bei Amazon – im Weihnachtsgeschäft. Da wusste ich noch nichts über die schlechten Arbeitsbedingungen. Wir Studis sind da echt an den Gewerkschafter*innen vorbeigelaufen, die vor den Werkstoren gestreikt haben, rein in die Arbeitsstätte. Erst heute verstehe ich, dass wir im Grunde eingesetzt wurden als Art Streikbrecher, ohne es zu wissen. Im Nachhinein war das sozusagen mein erster Berührungspunkt mit der Gewerkschaft.
"Auf Arbeit bin ich, um Geld zu verdienen - in der Gewerkschaft, weil ich wirklich etwas bewegen kann."
Mitglied wurde ich selbst erst während Corona, als ich bei DHL gearbeitet habe. Wir hatten eine Townhall. Da wollte unser Manager plötzlich, dass wir wieder ins Büro kommen – obwohl das überhaupt keinen Sinn ergab. Ich habe zu Hause zwei ältere Menschen und hatte einfach Angst, sie anzustecken. Es hat mich so aufgeregt, dass ich dachte: Jetzt muss ich aktiv werden. Ein Kollege meinte dann: "Ich bin in der Gewerkschaft, ich kann dir direkt den Mitgliedsantrag besorgen." Den habe ich ausgefüllt, und seitdem bin ich dabei.
Zuerst habe ich das nur halb verfolgt – über die Mitgliederzeitung publik – aber so richtig aktiv wurde ich erst mit der aktuellen Tarifrunde. Die vorigen Runden liefen eigentlich okay, aber diesmal war es anders. Wir hatten ein achtköpfiges Unterstützerteam von ver.di vor Ort das uns aktiv eingebunden hat: Rückkopplungen, Befragungen, echte Mitsprache. Plötzlich ging's nicht mehr darum, dass "die Gewerkschaft" was macht, sondern es ging um eine echte Beteiligung.
Was mich heute in der Gewerkschaft hält– unabhängig vom Rechtsschutz oder den Tarifrunden, ist das Ehrenamt als Vertrauensfrau, das direkt mein Leben und das meiner Kolleg*innen beeinflusst. Auf Arbeit bin ich, um Geld zu verdienen – in der Gewerkschaft, weil ich wirklich etwas bewegen kann. Die vielen Gespräche, das Zuhören bei Streiks – das verbindet. Man merkt: Ich bin mit meinen Problemen nicht allein.

Yannick (25), Krankenpfleger an der Medizinischen Hochschule Hannover
Ich bin seit mittlerweile sechs Jahren an der Medizinischen Hochschule in Hannover. Ich habe dort zuerst meinen Bundesfreiwilligendienst gemacht, danach meine Ausbildung und arbeite jetzt seit zwei Jahren als examinierte Pflegekraft auf der Infektionsstation. Wir versorgen dort auch hochinfektiöse Patientinnen und Patienten.
Mein erster Kontakt mit der Gewerkschaft war 2021. Damals kam eine Jugendsekretärin von ver.di zu uns in die Pflegeschule und hat über die bevorstehende Tarifrunde im öffentlichen Dienst gesprochen. Das klang cool und hat mich überzeugt. Da war ich 21.
Am Abend vor meinem ersten Streik war ich schon sehr aufgeregt. Wir haben uns im Gewerkschaftshaus getroffen, Banner gemalt, Flaggen gebastelt, Plakate beschriftet. Die hatte ich dann alle bei mir ins Auto gepackt und sollte die am nächsten Tag mit zum Betrieb nehmen. Eine meiner größten Herausforderungen war tatsächlich zu überlegen, was zieht man da an? (Lacht) Was muss man mitnehmen zu einem Streik? Muss man sich selbst versorgen? Was geht da eigentlich ab?
"Und dann kommt der Ministerpräsident rein, und plötzlich sitzt du da - 25, Pfleger, und redest mit ihm über Arbeitsbedingungen im Krankenhaus."
Im vergangenen Jahr haben wir dann einen Tarifvertrag Entlastung erkämpft. Da geht's nicht ums Gehalt, sondern um feste Personalbesetzungen und Entlastungstage. Also da war ich dann auch in der Tarifkommission und habe auch Spitzengespräche mit der Politik geführt und so.
Ich erinnere mich noch genau an den Termin bei Stefan Weil, unserem alten Ministerpräsidenten. Wir waren eingeladen ins Gästehaus der Landesregierung im Zooviertel – so eine alte Villa, fast wie ein kleines Schloss. Ich war todesaufgeregt. Ein Butler hat uns empfangen, die Jacken abgenommen, dann saßen wir in einem Warteraum, alles krass verziert. Später ging's in einen superschicken Verhandlungssaal: Jeder Platz mit eigenem Porzellan-Teeservice. Und dann kommt der Ministerpräsident rein, und plötzlich sitzt du da – 25, Pfleger, und redest über Arbeitsbedingungen im Krankenhaus. Gut, am Ende hab' ich gar nicht viel geredet, aber das war okay, weil ich war eh komplett überfordert mit der skurrilen Situation.
Heute bin ich Mitglied der Tarifkommission, ehrenamtlich für vier Jahre gewählt. Außerdem bin ich Teil der neuen Vertrauensleute-Leitung, die wir nach der letzten Tarifrunde aufgebaut haben – mit mehreren Leuten, damit das nicht auf einer Person hängen bleibt.
Ich sag heute oft zu Kolleg*innen: Wenn ihr es nicht selber tut, tut es niemand anders. Das meine ich ernst. Wir haben so viele Möglichkeiten – wir können uns an Politiker wenden, mit ihnen sprechen, Forderungen stellen. Für mich ist die Gewerkschaft eine echte Demokratieerfahrung.

Lola (30), Projekt-/Produktmanagerin bei HelloFresh, ehem. Betriebsratsvorsitzende, Berlin
Ich bin deutsch-französisch. Bei HelloFresh bin ich seit Januar 2021 – genauer: war. Ich habe einen Aufhebungsvertrag unterschrieben und habe zum November aufgehört. Mein Team arbeitete in Supply Chain Analytics: Wir haben faktisch Tech-Produkte gebaut, waren aber nicht als Tech-Team anerkannt – das bedeutete weniger Prestige, schlechtere Bezahlung, ein anderes Standing als "die Techs".
Gewerkschaftsmitglied bin ich seit Juni 2022. Der Weg dahin lief über die Betriebsratsgründung. Ein konkreter Auslöser war ein Versuch unserer Kolleg*innen in den USA, in zwei Produktionsstandorten eine Gewerkschaft zu gründen. Wir haben über Presse, Reddit und andere Kanäle mitbekommen –, dass da Pflichtmeetings angesetzt wurden, wo ein "Experte" erklärte, warum Gewerkschaften schlecht seien, und dass es eine Website mit Mitglied-Beitragsrechner gab: "Gib dein Gehalt ein, wir zeigen dir, was du mit den Beiträgen stattdessen kaufen könntest – vielleicht ein Fernseher." Es war sehr, sehr … sagen wir: unelegant.
Daraufhin fingen wir auf unserer internen Plattform an, Fragen zu der Situation zu stellen, bekamen aber nur so Corporate-Antworten – und die zum Teil erst nach Tagen, weil sie offensichtlich abgestimmt werden mussten. Das passte nicht zur Selbstbeschreibung "Startup, flache Hierarchien, hip, wir sind zehn Jahre alt, wir sind Tech". Ab da sind wir von interner in private Kommunikation gewechselt und alles nahm seinen Lauf.
"Ich glaube die Tech-Branche ist eine echte Chance für die Gewerkschaft. Aufklärung muss da früher ansetzen - bevor alles zur Tesla-Kultur wird."
Sprache war ein echtes Thema. Intern lief bei der BR-Gründung alles auf Englisch – juristisch aber ist das anders: Websites, Formulare, Seminare sind meist auf deutsch. Für viele Internationale ist das ein Showstopper. Ich war die einzige Muttersprachlerin; nur eine weitere Person sprach fließend Deutsch. Langfristig führt natürlich kein Weg am Deutschlernen vorbei – aber: In der Anlaufphase sollte die Sprache nicht die Hürde sein, wenn du in einem neuen Land, im neuen Job und mit BR-Gründung jonglierst. Da hat ver.di in der Beratung noch ein paar Lücken, obwohl ver.di B&B – die Lernplattform schon nachgelegt hat und ein paar Sachen auf englisch anbietet.
Ich glaube, die Tech-Branche ist eine echte Chance für die Gewerkschaft. Lange dachte man: Internationale Teams, höhere Gehälter, Sprachbarrieren, schnelle Wechsel – "Lohnt sich das? Die gehen doch eh nach zwei Jahren." Aber tatsächlich bleiben viele länger, werden älter, mit dem Einsatz von KI wird alles etwas unsicherer. Standards können erodieren, obwohl die Gehälter hoch ausfallen. Aufklärung muss da früher ansetzen – bevor alles zur Tesla-Kultur wird.

Sonthaya (31), Qualitätsanalystin bei TikTok (DACH) , Berlin
Ich arbeite als Qualitätsanalystin für Shortvideos im Quality Team (DACH). Ich checke nochmal die Videos, die schon einmal geprüft wurden – von KI oder Menschen, inhouse oder outsourced.
Ich bin in Berlin geboren, meine Mutter kommt aus Thailand, und ich sag mal so: Gewerkschaften funktionieren da anders, oder kaum – wir haben eine konstitutionelle Monarchie mit König, und es kommt immer wieder zu Militärputschen, was politische Instabilität und wenig gelebte Demokratie bedeutet.
In meiner Familie gab es aber trotzdem Berührungspunkte: Mein Vater war Gewerkschaftsmitglied. Durch ihn habe ich früh verstanden, wie Gewerkschaften arbeiten.
2019 habe ich bei Amazon gearbeitet, im Development Center (Tech, nicht Logistik). Mein Mentor aus dem Betriebsrat erklärte mir, wie Amazon arbeitet: Überwachung, Tracking, Kameras. Sie fanden heraus, dass Kameras sogar auf Toiletten gerichtet waren. Das war meine erste richtige Arbeitserfahrung nach der Uni – da habe ich verstanden: Gewerkschaftliche Unterstützung ist wichtig. Ich trat dann ver.di bei – zunächst wegen Rechtsschutz, aber auch aus Überzeugung. Dann kam Corona, mein Vertrag lief aus; ich blieb aber Mitglied – als Absicherung.
"Bei dem Boot-Protest bekam ich spontan das Mikro, direkt vor dem TikTok Gebäude, wo Kolleg*innen die Fenster öffneten. Seitdem habe ich keine Angst mehr vorm Streiken."
Als ich dann bei TikTok war, war es erst das Gegenteil von Amazon: ein Freiheitsgefühl. Die ersten Jahre liefen gut. Dann kamen Themen wie Tracking und Return to Office. Als Kolleg*innen fragten: "Sollen wir einen Betriebsrat gründen?", fing alles an. Wir saßen im ersten Zoom-Meeting zur BR-Gründung – plötzlich waren Leute aus der Personalabteilung unter anderen Namen drin. Jemand sagte: "Du bist doch HR – warum bist du hier?" Sehr merkwürdig alles.
Ich würde sagen, heute bin ich eher Mitglied als "richtige Gewerkschafterin". Ich helfe hier und da freiwillig. Vor dem ersten großen Streik aber war so viel los, dass ich mich wirklich aktiv fühlte. Bei dem Boot-Protest an der Spree bekam ich spontan das Mikro, direkt vor dem TikTok Gebäude, wo Kolleg*innen die Fenster öffneten, als sie uns hörten – ein starker Moment. Seitdem habe ich keine Angst mehr vorm Streiken.
Und egal wie alles am Ende ausgeht. Es hat sich gelohnt – auch mental. Handeln ist besser als Ohnmacht. Ich habe viel gelernt. Für manche mag das nicht reichen; für mich ist es ein Gewinn.
Protokolle: Rita Schuhmacher
Fotos: Christian Jungeblodt (5), Stefan Dehmel/ver.di (1)