Bis Ende 2012 müssen die Krankenkassen 70 Prozent ihrer Versicherten mit der elektronischen Gesundheitskarte ausgestattet haben, sonst drohen ihnen finanzielle Kürzungen. Über den Nutzen der Karte wird dabei noch immer gestritten

Gesundheitsdaten à la carte

VON Karin Nungeßer

Vor anderthalb Jahren erhielt Pia Rosenbaum* Post von ihrer Krankenkasse: Man wolle ihr eine neue Gesundheitskarte ausstellen, sie möge bitte ein Lichtbild von sich zurückschicken. Rosenbaum ignorierte das Schreiben genauso wie alle weiteren, die nun im Acht-Wochen-Abstand bei ihr eintrafen. Schließlich wies ihre Krankenkassenkarte noch eine Gültigkeit bis 2017 auf. Dann kam Ende 2011 ein neuer Brief: Wenn sie jetzt kein Passfoto einsende, könnten ab Anfang 2012 medizinische Leistungen mit ihrer alten Karte nicht mehr abgerechnet werden, sie müsse dann privat zahlen. Rosenbaum bekam Angst. Sie gab nach und gehört nun - gegen ihren Willen - zu den ersten Inhaber/innen der elektronischen Gesundheitskarte (eGK).

Über deren Vor- und Nachteile streiten Kritikerinnen und Befürworter seit Jahren. Als Auslöser für entsprechende Überlegungen gilt der sogenannte Lipobay-Skandal 2001: Damals starben weltweit mindestens 52 Menschen an tödlichen Wechselwirkungen mit dem Cholesterin-Senker. Um solche Risiken leichter erkennen zu können, beschloss man, künftig alle Verordnungen über eine Patientenkarte zu speichern, mögliche Wechselwirkungen würden per Computer analysiert, bei Gefahr für den Patienten sollte das System Alarm schlagen.

Mehr Transparenz schaffen

Schnell kamen weitere Ideen hinzu: Die neue elektronische Gesundheitskarte sollte fälschungssicher und europaweit einsetzbar sein, mehr Transparenz schaffen, außerdem elektronische Rezepte sowie die Aufnahme medizinischer Notfalldaten ermöglichen. Ende 2003 wurde ihre Einführung von der damaligen rot-grünen Bundesregierung beschlossen. Zur Entwicklung der elektronischen Gesundheitskarte und der dazu nötigen Telematik-Infrastruktur wurde eine eigene Gesellschaft gegründet: die gematik, in der die Verbände von Krankenkassen, Ärzten, Krankenhäusern und Apothekern vertreten sind.

Also alles gut? Nicht ganz. Der für 2006 geplante Einführungstermin wurde seitdem immer wieder verschoben; die Kosten für das neue System, die zum Großteil aus Versichertengeldern beglichen werden, sind aus dem Ruder gelaufen. Wie viel Geld bereits in das Projekt geflossen ist, kann weder die gematik noch die Bundesregierung genau sagen. Ursprünglich geplant waren 1,6 Milliarden Euro, 2009 bezifferte der - mittlerweile abgelöste - gematik-Sprecher Daniel Poeschkens die möglichen Gesamtkosten auf bis zu 14,1 Milliarden Euro.

Dazu kommt: Das Projekt ist technisch längst nicht ausgereift. Keine der geplanten freiwilligen Anwendungen - weder das elektronische Rezept, noch die elektronische Patientenakte oder der elektronische Arztbrief - stehen derzeit zur Verfügung, auch die Notfalldatenspeicherung funktioniert noch nicht.

Trotzdem macht das Gesundheitsministerium jetzt Druck: Statten die Kassen nicht bis Ende des Jahres 70 Prozent der Kassenpatienten und -patientinnen mit der neuen Chipkarte aus, drohen ihnen finanzielle Kürzungen. Auf die Versicherten kämen dann Zusatzbeiträge zu, warnt Herbert Weisbrod-Frey, Bereichsleiter Gesundheitspolitik bei ver.di, der dieses Vorgehen für falsch hält, obwohl aus seiner Sicht viele Argumente für die elektronische Gesundheitskarte sprechen: "Sie könnte helfen, Fehlmedikationen zu vermeiden und im Notfall schneller die richtige Behandlung einzuleiten." Außerdem werde die elektronische Gesundheitskarte Patienten bei Behandlungsfehlern zu ihrem Recht verhelfen: "Die Betroffenen haben ihren Behandlungsverlauf dann auf der Karte - und nicht mehr auf einer Karteikarte in der Praxis, die nicht herausgegeben wird", betont er.

Auch Susanne Mauersberg vom Bundesverband der Verbraucherzentralen kann der neuen Karte viel Positives abgewinnen. Und zwar besonders in puncto Datenschutz. "Krankenhäuser und Ärzte kommunizieren ja heute schon per Computer, und viele Patienten erleben täglich, dass ihre Unterlagen per E-Mail verschickt werden", sagt sie. "Dabei sind diese Vorgehensweisen unsicher. Die elektronische Gesundheitskarte ist der Versuch, dieses System sicherer zu machen und auf eine datenrechtlich solide Grundlage zu stellen."

Nur autorisierte Zugriffe

Tatsächlich gibt es von Datenschützer-Seite aus viel Lob für das umfangreiche Sicherheitskonzept. Jeder Zugriff - die Speicherung ebenso wie das Lesen von Daten - muss vom Patienten mit seiner Gesundheitskarte und der zusätzlichen Eingabe einer PIN autorisiert werden. Die Daten werden verschlüsselt, anonymisiert und an unterschiedlichen Orten gespeichert; zudem werden die letzten 50 Zugriffe dokumentiert. "Nach derzeitigem Stand der Technik kann man sagen, dass das System vorbildlich ist", erklärt die Sprecherin des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, Juliane Heinrich.

Was passieren kann, passiert

Jan Kuhlmann, IT-Experte und Jurist, bleibt dennoch skeptisch. "Jeder in der Datenverarbeitung kennt Murphy ́s Law: Was passieren kann, passiert", sagt er. Deshalb sei es eben trotz aller Sicherheitsvorkehrungen nicht ausgeschlossen, dass Unbefugte Zugriff auf die sensiblen Patientendaten bekämen. Ein denkbares Szenario: Eine Krankenkasse bietet ihren Versicherten kostenlose Beratungsangebote zum Thema günstigere Arzneimittel an, vielleicht belohnt durch ein System von Bonuspunkten. Allerdings verknüpft mit der Bedingung, dass die Mitglieder ihr dafür den Zugriff auf ihre elektronischen Gesundheitsakten einräumen. Beraten wird dann aber nicht von den Krankenkassen selbst, sondern von Mitarbeiter/innen eines Callcenters. "Solche Daten sind wirtschaftlich hochinteressant", so Kuhlmann, "deshalb wird es immer jemanden geben, der bereit ist, dafür viel Geld zu zahlen - und jemand anderen, der bereit ist, sie dafür weiterzugeben."

Unrealistisch? Wie wenig Sicherheitskonzepte oft mit der Realität gemein haben, belegen schon die umfangreichen Probeläufe mit der elektronischen Gesundheitskarte. Dabei wurde festgestellt, dass insbesondere ältere oder demente Versicherte Schwierigkeiten hatten, sich ihre PIN zu merken. Der Vorschlag der Evaluateure war naheliegend, dürfte aber Datenschützer erbleichen lassen: In einer Treuhändervariante könnten Betroffene ihre PIN doch dem Arzt anvertrauen, der dann die Eingabe für sie übernehme, empfahlen sie.

*Name von der Redaktion geändert

Was tun, wenn man keine E-Karte will?

Wer keine elektronische Gesundheitskarte möchte, sollte sich nicht von seiner Krankenkasse unter Druck setzen lassen. "Ganz wichtig: Selbst wer keine gültige Karte mehr hat, fliegt nicht aus der Versicherung", sagt Silke Lüder, Sprecherin des Bündnisses "Stoppt die e-Card".

"Der Versicherungsschutz hängt nicht von der neuen Karte ab."

So würden Ärzte auch heute schon im sogenannten Ersatzverfahren behandeln: Dazu müssten die Helferinnen lediglich bei der betreffenden Kasse anrufen und um eine schriftliche Bestätigung bitten, dass der Patient dort versichert ist.

Wer sich durch die elektronische Gesundheitskarte in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt sieht, kann Widerspruch einlegen und klagen. Der Rechtsanwalt Jan Kuhlmann, der Ende Juni den ersten Kläger vor dem Düsseldorfer Sozialgericht vertritt, hält solche Klagen für erfolgversprechend. Schließlich habe Karlsruhe bereits zugebilligt, dass es bei der Kritik an der elektronischen Gesundheitskarte um "durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen" gehe. Entsprechende Muster für Widersprüche finden sich zum Beispiel auf der Internetseite http://www.patientinformiertsich.de/aktionen/details.php?msgid=302.

Wer seine elektronische Patientenakte, den elektronischen Arztbrief oder die Speicherung der eigenen Notfalldaten unabhängig von der elektronischen Gesundheitskarte heute schon nutzen möchte - auch das ist möglich. Der Unternehmer Nils Finkernagel hat dafür einen speziellen USB-Stick mit einer medizinischen Software entwickelt. Kostenpunkt pro Patient: 60 Euro.

Karin Nungeßer