Am 22. September wird ein neuer Bundestag gewählt. Vor der Wahlentscheidung sollte man sich die Wahlversprechen der einzelnen Parteien genau anschauen. Denn drängende Probleme müssen jetzt endlich angepackt werden. Es ist Zeit für Gerechtigkeit

Die ver.di-Vertrauensleute - wie hier von Arbeitsagenturen in Nordrhein-Westfalen - wissen genau, was für sie wahlentscheidend ist

Mit einer niedrigen offiziellen Arbeitslosenzahl schmückt sich die schwarz-gelbe Bundesregierung kurz vor der Bundestagswahl. Die Zahl liegt unter drei Millionen, die Zahl der Erwerbstätigen ist im Vergleich zum Vorjahr um 223.000 auf 41,89 Millionen gestiegen. "Der deutsche Arbeitsmarkt zeigt sich weiterhin grundstabil", heißt es dazu in einer Pressemitteilung des Bundesarbeitsministeriums. Also alles klar vor der Wahl?

Mitnichten. Wer hinter die Zahlen schaut, erkennt schnell den Preis, mit dem dieser scheinbare Boom auf dem Arbeitsmarkt erkauft wurde. Ein Viertel, also 25 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeitet für weniger als 9,54 Euro die Stunde. Das hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ermittelt, das mit diesem Betrag die Niedriglohnschwelle in Deutschland markiert. Das IAB ist das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit und steht somit nicht im Verdacht, gegen die Bundesregierung argumentieren zu wollen. Schaut man nur auf die Vollzeitbeschäftigten, liegt der Anteil der Geringverdiener/innen immer noch bei rund 20 Prozent.

Mit diesen Zahlen liegt Deutschland im europäischen Vergleich des IAB auf dem vorletzten Platz, bezogen auf alle Beschäftigten. 7,5 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland für weniger als 8,50 Euro pro Stunde.

"Millionen Menschen haben wieder Arbeit und sind nicht oder weniger von staatlicher Hilfe abhängig", rechtfertigt die Bundesregierung in ihrem Sozialbericht, den sie im Juli vorgelegt hat, dass viele Menschen in Deutschland selbst von ihrer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung nicht mehr leben können. 1,324 Millionen waren es nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2012. Nötig wäre ein solch großer Niedriglohnsektor nicht, um die Zahl der Beschäftigten zu steigern. Das zeigt der Blick nach Skandinavien. Auch dort ist die Beschäftigungsquote relativ hoch, aber die Zahl der Geringverdienenden vergleichsweise niedrig.

Bundesregierung spricht von "sozialer Mobilität"

Und was sagt die Bundesregierung dazu? "Für eine Politik der sozialen Mobilität bietet das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft eine gute Grundlage, verbindet es doch die Prinzipien von Freiheit und Wettbewerb mit denen des sozialen Ausgleichs und der Gerechtigkeit. Insofern bleibt die große und faszinierende Zusage der Sozialen Marktwirtschaft, dass Wohlstand durch Arbeit für jeden möglich und sozialer Aufstieg für jeden erreichbar ist, weiter bestehen", heißt es in ihrem Sozialbericht.

Ändern möchte sie also nichts an der Politik, die immer mehr Menschen arm trotz Arbeit macht. Ein Ausweg aus dem Dilemma wäre ein allgemeiner gesetz-licher Mindestlohn. ver.di fordert 8,50 Euro pro Stunde zum Einstieg. Der Betrag soll dann schnell auf zehn Euro angehoben werden. Die Forderung findet solch breite Zustimmung in der Bevölkerung, dass sich auch die politischen Parteien für dieses Thema geöffnet haben.

Mindestlohn jetzt!

Union und FDP haben die gewerkschaftliche Idee allerdings umgedeutet zu "Lohnuntergrenzen". Die sollen je nach Region unterschiedlich sein und auf Branchen ohne Tarifbindung beschränkt bleiben. Das öffnet den Weg für Gefälligkeitstarifverträge mit Pseudo-Gewerkschaften - und es garantiert nicht, dass diese Branchen irgendwann auf ein Lohnniveau kommen, von dem die Beschäftigten ohne staatliche Unterstützung leben können. SPD und Grüne sind mittlerweile auch auf 8,50 Euro eingeschwenkt, die Forderung der Linkspartei liegt bei zehn Euro pro Stunde.

Doch nicht nur das liegt auf dem Arbeitsmarkt im Argen. Die prekäre Beschäftigung wächst, Befristungen, Teilzeitarbeit und Minijobs nehmen zu. Beschäftigte werden als Leiharbeitnehmer/innen eingestellt oder arbeiten auf Werkvertragsbasis. Sie werden entlassen und erhalten zu schlechteren Bedingungen einen neuen Arbeitsvertrag. Möglich gemacht hat das Anfang dieses Jahrtausends die rot-grüne Bundesregierung mit den Hartz-Gesetzen. Doch auch die nachfolgenden Regierungen haben diese Gesetze trotz offensichtlicher Fehlwirkungen nicht verändert. Auch Schwarz-Gelb sieht keine Veranlassung dazu. Schließlich ist, so vermittelt sie es in ihrem Sozialbericht, jeder seines Glückes Schmied.

Die Bilanz ihrer Aktivitäten, die die schwarz-gelbe Bundesregierung in ihrem Sozialbericht von vier Jahren Regierungstätigkeit zieht, ist dürftig. Ob Rente, Pflege oder Gesundheit, ob bei Migrant/innen, Gleichstellung oder Menschen mit Behinderungen, überall gibt es großen Handlungsbedarf.

Beispiel Pflegeversicherung: Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den kommenden Jahren weiter ansteigen. Doch mit einer Pflegeversicherung in der heutigen Form ist das nicht zu bewältigen. Dennoch will die Bundesregierung das nicht ändern: "Der Teilsicherungscharakter der Pflegeversicherung soll auch künftig erhalten bleiben", heißt es im Sozialbericht. Stattdessen setzt die schwarz-gelbe Bundesregierung auch hier auf Eigenvorsorge, hat die private Pflegeversicherung gestärkt. Die kann sich die wachsende Zahl der Geringverdiener/innen gar nicht leisten. ver.di hat bereits Ende vergangenen Jahres ein Gutachten vorgelegt, nach dem eine Pflegevollversicherung sehr wohl finanzierbar ist (siehe ver.di PUBLIK, Ausgabe 08_2012). Es gibt viel zu tun für eine neugewählte Bundesregierung. Deswegen ist es wichtig, sich vor der Wahlentscheidung die Parteiprogramme genau anzusehen. Was ver.di zur Lösung der drängenden Probleme vorschlägt und für unabdingbar hält, ist nachzulesen auf einer eigenen ver.di-Website zur Bundestagswahl.

http://zurwahl.verdi.de