Arzneimittel in Deutschland gelten als sehr sicher. Dennoch kommt es immer wieder zu unerwünschten Nebenwirkungen. Die Ursache: Verträglichkeitsstudien werden überwiegend an Männern mittleren Alters durchgeführt - wie Alte, Frauen und Kinder reagieren, wird da zum Risiko

Nicht genügend durchleuchtet: Patientinnen.

Pro Jahr gehen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 1500 Anträge auf Neuzulassung eines Medikaments ein. Getestet werden diese Medikamente überwiegend an Männern. So ist zum Beispiel die Erstanwendung eines Medikaments an Frauen gesetzlich verboten wegen des Risikos einer noch unerkannten Schwangerschaft. Doch auch Kinder und Ältere erhalten meist Medikamente, die nicht speziell für sie zugelassen sind. Die Medikation wird für den Arzt da schnell zum Blindflug, schwere Arzneimittelreaktionen zum Risiko.

Der Kinderarzt und Pharmakologe Hannsjörg Seyberth, Vorsitzender der Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter bei der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendmedizin, ist erleichtert, dass seit Februar in der Europäischen Union zumindest eine neue Verordnung für Kinderarzneimittel gilt. "Dies ist ein wesentlicher Schritt vorwärts, es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Pharmaindustrie gezwungen wurde, Arzneimittel für Kinder zu testen." Bislang gelte in der Kinderheilkunde: je jünger und kränker das Kind, desto schlechter die Versorgungslage mit sicheren Medikamenten. So sind laut einer europäischen Studie, die 2000 im renommierten British Medical Journal veröffentlicht wurde, in der ambulanten Versorgung etwa 20 Prozent der Medikamente, die Kindern verabreicht werden, nicht getestet, in der klinischen Versorgung sind es bereits 50 Prozent, und in der Frühgeborenen-Versorgung gar 90 Prozent.

Immense Spätfolgen durch Medikamente bei Kindern

Die Ursache: Arzneimitteltests sind teuer. Sie werden in der Regel dann durchgeführt, wenn sich das Pharmaunternehmen einen entsprechend großen Absatz des Medikaments verspricht. "Ist der Markt groß genug, kann man davon ausgehen, dass der Hersteller auch sorgfältig geprüft hat", sagt Seyberth. Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch, dass Medikamente für all jene Gruppen von Patienten, die unter seltenen Krankheiten leiden, oder die zu einer kleinen Patientengruppe gehören, schlecht bis gar nicht getestet sind. Zu diesen Gruppen gehören Kinder, aber auch Alte und Frauen. "Wir kämpfen gegen die Standardtherapie", sagt Seyberth.

Die Spätfolgen, die gerade Kinder wegen unzureichend getesteten Medikamenten erleiden, sind immens. So führt das Krebs- und Rheumamittel Methotrexat, im Kindesalter verabreicht, bei Jungen später zu Unfruchtbarkeit. Arzneimittel, die in das Immunsystem von Kindern eingreifen, verursachen eine höhere Krebsrate im Erwachsenenalter. Besonders tragisch ist diese mangelnde Arzneimittelsicherheit im Falle von Aids, sagt Seyberth. "Die meisten HIV-Patienten in Afrika sind Kinder - wir wissen nur nicht, wie wir sie behandeln können, ohne ihnen zu schaden." Seyberth rechnet damit, dass sich zumindest die Situation der europäischen Kinder in den nächsten zwei bis vier Jahren verbessern dürfte. Skeptischer ist da der Leiter der Abteilung "Klinische Prüfung" des BfArM, Christian Steffen. Er dringt auf eine gezielte Forschung für Kinder. "Man hat mehr Effekte, wenn Studien für Kinder subventioniert werden".

Der Kardiologe und Mitherausgeber des Arzneimittelbriefs, Walter Thimme, sagt, auch die Wirkungsweise von Medikamenten für Frauen und Ältere sind unzureichend bekannt. Christian Steffen vom BfArM jedoch hält diese Kritik, insbesondere mit Blick auf Frauen, für "eine Modedebatte". "Große Geschlechtsunterschiede in der Reaktion auf Arzneimittel sind nicht die Regel. Und: Es wird schon recht viel untersucht." Steffen reicht die Verantwortung an den behandelnden Arzt weiter. Der Mediziner müsse mehr Sorgfalt in der Anwendung üben, sich die Fachinformation über ein jeweiliges Medikament besorgen und studieren, bevor er ein Mittel verschreibt. "Damit liessen sich schon viele Probleme für Frauen, aber auch ältere Patienten aus der Welt schaffen."

Besonders in den Studien der Kardiologie, hält Thimme dagegen, seien Frauen "oft unterrepräsentiert" - zwar machen sie 50 Prozent der Patienten aus, in den Studien sind jedoch oft nur zehn Prozent Frauen beteiligt. Hinzu kommt: "Insgesamt weiß man, dass Frauen häufiger an unerwünschten Nebenwirkungenn leiden als Männer", sagt Petra Thürmann vom Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie der Universität Witten/ Herdecke und Direktorin des Philipp Klee-Instituts für Klinische Pharmakologie. Dies liege zum einen daran, dass Frauen schlicht mehr Arzneimittel konsumieren als Männer, aber auch daran, dass sie bestimmte Arzneimittel wie manche Betablocker oder Krebsmittel langsamer abbauen. So leiden ältere Frauen überproportional oft an Digitalis-Vergiftungen - ein Mittel, dass zur Standardtherapie bei Herzschwäche gehört. Insgesamt seien Frauen in neueren Medikamenten-Studien zwar angemessen berücksichtigt. Allerdings: "Geschlechtsspezifische Auswertungen werden wohl häufig durchgeführt, aber entweder haben die Studien nicht den entsprechenden Umfang, um eine Aussage zuzulassen, oder das Ergebnis der Ananlyse wird nicht veröffentlicht", kritisiert Thürmann.

Ein Anwendungsregister als erster Schritt

Die Ursache dafür, dass nur wenige Arzneimittelstudien für ältere Patienten existieren, ist ihre Polymorbidität - sie leiden gleichzeitig unter vielfältigen Erkrankungen. So muss bei einem älteren Menschen häufig eine Nieren- oder Leberschwäche, neben der eigentlichen Erkrankung, mitbedacht werden.

Realistischer als strengere Auflagen für Pharmaunternehmen, künftig ihre Arzneimittel auch an Frauen und Älteren zu testen, betrachtet Thimme ein Anwendungsregister für sämtliche Medikamente nach der Zulassung. Hierdurch könnte festgestellt werden, welche Patientengruppen welche Medikamente nicht vertragen. "Zudem fordern wir, dass wie in Großbritannien den Patienten deutlich gemacht wird, dass neue Arzneimittel weniger sicher sind als alte. Dort gibt es in den ersten zwei Jahren einen entsprechenden Aufdruck auf der Medikamentenverpackung", sagt Thimme.

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