HELMUT PLATOW ist Leiter der Rechtsabteilung beim ver.di-Bundesvorstand

Ist das Streikrecht künftig daran zu messen, wie groß der Schaden für die Volkswirtschaft ist? Wenn es nach dem Arbeitsgericht Nürnberg geht, soll das so sein. Zum ersten Mal haben Richter einen Streik verboten, weil er "immense wirtschaftliche Schäden" für die gesamte Volkswirtschaft anrichten könnte. Der Kampf der Lokführer um einen eigenen Tarifvertrag wurde ohne mündliche Verhandlung mit dem Hinweis auf die "Hauptreisezeit" durch Gerichtsbeschluss vom 8. August bis 30. September 2007 untersagt. Selten war sich die Kritik so einig: Wirtschaftlicher Druck und drohender Schaden sind doch dringend notwendig, um Tarifergebnisse zu erzielen.

Arbeitskämpfe um wichtige Tarifziele, daran sei erinnert, waren immer mit hohen Kosten für beide Seiten verbunden. Wie kommt es, dass heutzutage einzelne Arbeitsgerichte Streiks der Lokführer mit allgemeinen Begründungen wie "unverhältnismäßig" oder "Verstoß gegen die Kampfparität" kurzerhand untersagen, und zwar ohne die genauen Umstände zu kennen oder zu wissen, wie groß die Schäden überhaupt werden könnten? Wie immer gibt es mehrere Gründe: Zum einen gibt es eine neue Richtergeneration mit teilweise neuen Wertvorstellungen. So hat vor einigen Jahren das Arbeitsgericht Berlin Streiks von Kinobeschäftigten untersagt mit der Begründung, sie seien unverhältnismäßig, weil in der gesamten Republik die Premiere des Films Herr der Ringe erwartet werde und bereits viele tausend Premierekarten verkauft worden seien. Solche Entscheidungen werden in der Regel - wenn auch aus Arbeitnehmersicht viel zu spät - nach Wochen oder Monaten in der zweiten Instanz korrigiert. Zum anderen fällt es den Arbeitsgerichten schwer, sich auf eine drastisch veränderte Tariflandschaft einzustellen, in der das Prinzip der Tarifeinheit aufgeweicht worden ist, das mehr als 40 Jahre in den Betrieben gegolten hatte.

Die DGB-Gewerkschaften hatten sich, geprägt durch die Erfahrungen in der Weimarer Republik, verpflichtet, auf Tarifkonkurrenz zu verzichten. Es galt das Prinzip "ein Betrieb, eine Gewerkschaft". Länger als 40 Jahre ist es so gelungen, eine allzu große Spreizung der Arbeitnehmereinkommen und sonstigen Arbeitsbedingungen im Rahmen der verhandelbaren Verteilungsmasse zu vermeiden. Dank der Kampfkraft der abhängig Beschäftigten in betrieblichen Schlüsselpositionen (z.B. Facharbeiter in Automobilindustrie, Druckindustrie oder Müllabfuhr) ist es unter Berücksichtigung des Solidaritätsgedankens regelmäßig gelungen, auch die Beschäftigten in schwach organisierten Wirtschaftszweigen an der Einkommensentwicklung zu beteiligen.

Die Arbeitgeber und auch der Gesetzgeber, die sich jetzt lauthals über die Forderungen der Lokomotivführer, Ärzte, Piloten und deren teils neu gegründeten Spartenorganisationen beklagen, haben diese Entwicklung selbst befördert. Auslagerungen von Produktionen und Dienstleistungen in vielen Wirtschaftszweigen haben zu einer Zersplitterung der Belegschaften geführt mit der Folge, dass jede unternehmensrechtlich verselbstständigte Betriebsabteilung für ihre eigenen Arbeitsbedingungen sorgen muss. Kleinere Einheiten sind - betriebliche Schlüsselpositionen ausgenommen - dabei weniger durchsetzungsfähig. Überdies hat das Bundesarbeitsgericht die rechtlichen Anforderungen an die Entscheidung, wann eine Vereinigung eine Gewerkschaft darstellt, erheblich herabgesetzt. Es soll danach im Wesentlichen darauf ankommen, ob sie bei Tarifauseinandersetzungen durchsetzungsfähig ist. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass durchsetzungsstarke Arbeitnehmergruppen wie eben Lokomotivführer, Ärzte und Piloten auf diese Art und Weise versuchen, auf Tarifabbau, Lohndumping, Leistungsverdichtung usw. zu reagieren.

Die Spaltung der Belegschaften schadet aber grundsätzlich der Arbeitnehmerseite, weil sie letztlich geschwächt wird und unter dem Strich die Verteilungsmasse für die Beschäftigten gleich bleibt. Im Blick auf die rechtliche Zulässigkeit von Arbeitskämpfen können sich aber die Gerichte nicht auf Dauer weigern, dieser veränderten organisationspolitischen Konstellation auf Arbeitnehmerseite Rechnung zu tragen. Für die DGB-Gewerkschaften gibt es unabhängig davon jedoch keine Alternative dazu, auch künftig politisch an dem Prinzip der Tarifeinheit festzuhalten und gegen eine Zersplitterung der Arbeitnehmerkoalitionen zu kämpfen. Die Geschichte der Arbeiterbewegung zeigt, dass Abspaltungen von einer starken Einheitsgewerkschaft nicht von Dauer sein müssen. Die Geschichte der Arbeiterbewegung zeigt, dass Abspaltungen von der Einheitsgewerkschaft nicht von Dauer sein müssen