Noch kann gestreikt werden

von Henrik Müller

Auch wenn die schwarz-rote Regierungskoalition im Mai ihr heftig umstrittenes Gesetz zur Erzwingung der Tarifeinheit im Betrieb wie geplant durch den Bundestag bringt, bleibt der bundesdeutschen Öffentlichkeit das Thema Einschränkung des Streikrechts erhalten. Zum einen haben etliche Verbände, unter ihnen auch ver.di, angekündigt, sich beim Bundesverfassungsgericht zu beschweren. Zum anderen gibt es starke politische Kräfte, zum Beispiel der einflussreiche Wirtschaftsflügel der Union, denen das vorliegende Tarifeinheitsgesetz nicht weit genug geht und die noch im April Arbeitsministerin Andrea Nahles, SPD, aufforderten, ihren Gesetzentwurf "nachzubessern", sprich: zu verschärfen.

Angemessene Ankündigungsfristen

Klare Ansage des wirtschaftspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Joachim Pfeiffer: "In zentralen Bereichen der Daseinsvorsorge, etwa im Luft- und Bahnverkehr oder bei der Energie- und Wasserversorgung brauchen wir klare Vorschriften. Gerade in diesen Bereichen können Streiks Schäden in Millionenhöhe auslösen", sagte er dem Nachrichtenmagazin Focus. Die Ministerin solle nachdenken über "angemessene Ankündigungspflichten, obligatorische Schlichtungsverfahren oder eine Verpflichtung, die Grundversorgung der Allgemeinheit aufrechtzuerhalten", fordert der CDU-Parlamentarier.

In die richtige Richtung gehe die Idee, dass in einem Betrieb auch nur ein Tarifvertrag gelten könne. Anderenfalls bestehe die Gefahr, dass "uns Verhältnisse wie im England der siebziger Jahre drohen", versuchte Pfeiffer ein Horrorszenario zu entwickeln: "Dort haben wilde Streiks das öffentliche Leben fast komplett lahmgelegt." Nebenbei: In Großbritannien gibt es selbst nach der Strangulierung des Streikrechts durch die Gewerkschaftsfresserin Margaret Thatcher selig bis heute mehr Arbeitskämpfe als in Deutschland, wo Pfeiffers "wilde Streiks" juristisch ohnehin nicht erlaubt sind und selbst reguläre Arbeitsniederlegungen bereits sehr strengen formalen Anforderungen unterliegen.

Daumenschrauben anlegen

Der Wirtschaftsflügel der Union geht aber noch weiter; in einem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach deren Angaben vorliegenden Schreiben an CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder fordern Pfeiffer und Co. eine weitere Änderung des Regierungsentwurfs aus Nahles‘ Arbeitsministerium: "Die Unzulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen zur Durchsetzung eines nicht anwendbaren Tarifvertrags sollte im Gesetz selbst geregelt werden - und nicht in der Begründung versteckt werden. Alles andere wäre eine Mogelpackung." Will sagen: Das Streikverbot für die Minderheitsgewerkschaft im Betrieb soll noch kräftiger festgezurrt werden, als es schon vorgesehen ist. Und die Daumenschrauben für Gewerkschaften, die in der Daseinsvorsorge von ihrem Grundrecht auf Streik Gebrauch machen wollen, sollen nicht nur für den Luft- und Bahnverkehr oder die Energie- und Wasserversorgung angezogen werden, sondern laut Wirtschaftsflügel ausdrücklich auch für das Erziehungswesen und die Kinderbetreuung.

Eine weitere solche Daumenschraube neben den im Focus genannten haben sie ebenfalls parat: ein gesetzliches Mindestquorum für Urabstimmungen von 50 Prozent. Die FAZ vermutet, diese Vorstöße des Wirtschaftsflügels gingen "freilich so weit, dass sie auch den Widerstand der SPD und jener Großgewerkschaften provozieren werden, die den vorliegenden Gesetzentwurf unterstützen". Bei letzteren handelt es sich um die Industriegewerkschaften Metall, Bergbau-Chemie-Energie (IG BCE) und Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) sowie die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) im DGB. Im Gegensatz dazu haben sich - neben diversen Berufsgewerkschaften und dem Beamtenbund - die DGB-Gewerkschaften ver.di, Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) gegen das Tarifeinheitsgesetz positioniert und dafür bis zum 29. April mehr als 82. 500 Unterschriften gesammelt.

Kommentar Seite 15