Einschulung: freudige Erwartung bei den Kindern - Sorgenfalten bei vielen Eltern. Denn die Regelsätze nach Hartz IV reichen nicht für ausreichend Essen und Schulausstattung. Betroffen sind 1,9 Millionen Mädchen und Jungen in Deutschland, Tendenz steigend

Mutter Christine und Vater Frank-Peter mit Tabea, Jaqueline, Robin und Janin (v.l.)

Die sechsjährige Tabea ist stolz, endlich ein Schulkind zu sein. Für ihre Eltern bedeutet das allerdings eine große finanzielle Belastung. "Als ich die Liste sah, was wir alles anschaffen müssen, habe ich erst mal gedacht: oh Gott", erzählt Christiane Brüning aus Berlin-Hellersdorf, die mit ihrer sechsköpfigen Familie von Arbeitslosengeld (ALG) II lebt. Neben Heften, Federmäppchen, Wachsmalstiften und Turnzeug verlangt die Schule noch die Anschaffung von über einem Dutzend weiterer Posten wie Schere, Borstenpinsel und Butterbrotdose. Rund 100 Euro kamen so zusammen - ein Ranzen nicht einmal mitgerechnet. Zusätzlich hat die Schule nun noch fünf Arbeitshefte für Tabea bestellt. Im Oktober werden ihre Eltern die 38 Euro dafür zusammen haben müssen. "Diese Hefte werden benotet. Deshalb brauchen die Kinder sie unbedingt", sagt Vater Frank-Peter Stensky. Wo er und seine Frau das Geld abknapsen, wissen sie noch nicht. Denn Tabea selbst stehen nur 1,79 Euro im Monat für Papier, Stifte, Radiergummi und andere Arbeitsmaterialien zu.

Auch beim Essen sind die Hartz-IV-Sätze für Schulkinder viel zu knapp kalkuliert. Tabea und ihr zehnjähriger Bruder müssen nach Berechnung des Paritätischen Wohlfahrtverbands mit 2,72 Euro am Tag auskommen, für ihre 15- und 16-jährigen Schwestern Jaqueline und Janin sind jeweils 3,63 Euro am Tag vorgesehen. Doch das Forschungsinstitut für Kinderernährung hat kürzlich ausgerechnet, dass das für eine ausgewogene Ernährung auf keinen Fall reicht. Selbst wenn die Familie sämtliche Lebensmittel bei Discountern einkauft, sind für einen Jugendlichen 4,68 Euro das Minimum.

Klimmzüge am Brotkasten

"Ich gehe immer allein einkaufen. Sonst müssten wir am Monatsende Klimmzüge am Brotkasten machen", beschreibt Christiane Brüning ihre Überlebensstrategie. Außerdem schickt sie ihre Kinder häufig in die christliche Hilfseinrichtung Arche, wo 600 Jungen und Mädchen ein kostenloses Mittagessen bekommen. Die meisten T-Shirts, Jacken und Schuhe der Familie stammen ebenfalls aus der dortigen Kleiderkammer, auch Tabeas Schultasche ist eine Spende.

Viele Eltern, die mit ihren Kindern von ALG II leben, mussten sich für den Ranzen ihrer Erstklässler verschulden. Denn seit 2005 gibt es keine Beihilfen mehr für Schulkosten, zugleich wurde der Regelsatz für 7- bis 14-Jährige um rund zehn Prozent gesenkt. Beim Sozialgericht in Düsseldorf laufen nun zwei Eilklagen von alleinerziehenden Müttern.

"Geld ist bei uns natürlich Dauerthema", sagt Janin. In zwei Wochen braucht sie 15 Euro für ein Arbeitslehreprojekt, bei dem die Jugendlichen Wecker und ähnliche Gegenstände bauen. "Trag es in den Kalender ein", fordert ihr Vater. Dass Projekt- und Wandertage häufig am Monats-ende stattfinden, wenn das Geld noch knapper ist als sonst, ärgert ihn. "Viele Kinder bleiben dann ganz zu Haus." Das will Frank-Peter Stensky auf keinen Fall - und so hat die Familie die 49 Euro für Jaquelines Klassenausflug vor zwei Jahren nach und nach abgestottert.

Tabea, Robin, Janin und Jaqueline sind keine Ausnahmen: 17 Prozent aller Kinder in Deutschland leben vom Regelsatz nach Hartz IV - über 60000 mehr als ein Jahr zuvor. Vom allgemeinen Wirtschaftsaufschwung merken sie nichts.

Weil nicht schon Kinder und Jugendliche den Absturz in die Armut erleben sollen, fordert ver.di die gründliche Überprüfung der Regelsätze. Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen soll spürbar verbessert werden.

Siehe Interview "Gewonnen hat niemand"