Ausgabe 08/2007
Sich Zeit nehmen bildet
Von Edith Kresta |Auf den Halligen leben nur wenige Menschen. Ihren Erwerb beziehen sie heute hauptsächlich durch Tourismus, Küstenschutz und Landwirtschaft. Eine philosophische Bildungsreise auf die Nordsee-Hallig Langeneß zum Thema Zeit
"Was aber ist die Zeit?", fragte sich schon der Heilige Augustinus circa 300 nach Christus, um bei der Erklärung dieses Phänomens zu kapitulieren. Auch wir hadern damit. Und haben uns drei Tage auf die Nordsee-Hallig Langeneß zurückgezogen, um über Zeit zu sinnieren. Umspült von den Gezeiten, geprägt von Ebbe und Flut, ist diese lang gestreckte, dem Meer abgetrotzte Landmasse der ideale Ort dafür. "Flutende Zeit", so das Thema der Reise.
Ausflügler in die Zeit
Wir sind zwölf Personen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Erwartungen. Die Rentnerin aus München, die sich hier Anregung holt; die Philosophielehrerin, die ihrem Metier frönt; der pensionierte Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der sich an allgemeiner Bildung labt; der Ingenieur, der sich für das Zeitphänomen interessiert. Außerdem der Professor der Neurologie, der mehr über Bewusstseinsbildung aus philosophischer und literarischer Sicht erfahren will, und der bei allzu großem Abschweifen gern beweiskräftig und keinen Widerspruch zulassend die Erkenntnis der Hirnforschung präsentiert. Die Rechtsanwaltsgehilfin, die sich mit Wissenschaft beschäftigt und diese Reise von ihrem Betrieb als Bildungsurlaub anerkannt bekam, und die Technikerin, die Lebenshilfe erwartet.
Eine bunte Mischung, mit der der freischaffende Philosoph Peter Vollbrecht durch die unterschiedlichsten philosophischen Modelle streift. Ausflüge in die Zeit der Antike, zu den frühen Naturwissenschaften, zu Galilei und Newton, zu Kant, Bergson, Heidegger, um dann in der Physik, der Thermodynamik und bei Einstein zu landen.
Die Hallig Langeneß liegt zwar mitten in den Gezeiten und doch außerhalb der gewöhnlichen Zeit. Zumindest scheint es uns so. Im Winter und im Herbst wird sie bei Sturm regelmäßig überspült. Jetzt wachsen noch bunte Blumen auf den Salzwiesen. Kühe liegen in den baum- und strauchlosen Grasflächen. Die 16 Warften, künstlich aufgeworfene Hügel, auf denen reetgedeckte Häuser stehen, wirken wie Maulwurfshügel in der flachen Landschaft, die bei unbedecktem Himmel wie frisch gewaschen aussieht.
108 Einwohner, eine schmale Straße ohne Verkehrsschilder, dafür der Hinweis auf Ausweichbuchten, ein Kiosk am einen Ende und ein kleiner Laden am anderen Ende der Hallig - hier wird der Rhythmus langsamer, werden die Gedanken stetiger. Entschleunigung. Es gibt keinen Verkehrslärm, keinen Drogeriemarkt, keine schrille Reklame. Keinen Arzt, keine Polizisten, keinen Bankautomaten. Kein Hund bellt, kein Hahn kräht. Nur die Lachmöwen scheinen die Besucher zu bemerken und fliegen über sie hinweg mit ihrem distanzlosen Kreischen.
Was ist eine philosophische Zeit?
Stress, ade. Hier wird Zeit spürbarer, was unser Thema idyllisch untermalt. Was ist eigentlich eine philosophische Zeit? Eine andere als die physikalische? Wie verhalten sich die objektive Zeit der Physik und die subjektiv erlebte Zeit zueinander? Warum kommen einem als Kind die Tage ewig vor - je älter man wird, desto weniger Zeit aber scheint man zu haben?
Vollbrecht hat verdauliche Vorträge ausgearbeitet. Er ist ein guter Moderator, geübt im Vermitteln. Er versteht sich selbst als "Übersetzer philosophischer Texte". Das macht er seit Jahren in philosophischen Cafés im süddeutschen Raum. Viele seiner Gäste kommen immer wieder. Auch zu seinen Reisen, selbst wenn vieles in den Windungen des philosophischen Konstrukts verborgen bleibt. Natürlich redet man aneinander vorbei, man nagt an unterschiedlichen Problemen, hat unterschiedliche Fragen, unterschiedliche Antworten.
Fitness für das Hirn und für den Körper
Ein bewegter Geist regt den Körper an und umgekehrt. Wir betreiben Fitness fürs Hirn und für den Körper. Eine Wattwanderung bietet sich dafür genauso an wie die Fahrt mit dem Rad über die Hallig. Von einem zum anderen Ende sind es etwa 14 Kilometer. Bei ebener Strecke bleibt genügend Zeit, um weiter zu philosophieren in der entschleunigten Zeitblase.
"Große Zeiträume schrumpfen bei ununterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode erschreckende Weise zusammen. Wir wissen wohl, dass die Einschaltung von Um- und Neugewöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unseren Zeitsinn aufzufrischen, eine Verjüngung, Verstärkung, Verlangsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen. Dies ist der Zweck des Orts- und Luftwechsels", schrieb Thomas Mann im Zauberberg. Reisen und Bilden als "Zeitgewinn gegen die Lebensschwäche" - das leuchtet auf der Hallig unmittelbar ein.
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