Die Große Koalition bringt eine Pflegereform auf den Weg und traut sich an das eigentliche Problem – die Finanzierung – nicht heran. Die Folge: noch mehr Schwarzarbeit in der Pflege

Die Qualität muss für beide Seiten stimmen: Pflegebedürftige und Pfleger/innen

Als "großen Schritt" hat Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) die von der Großen Koalition verabschiedete Pflegereform bezeichnet. Die Frage ist nur: ein Schritt in welche Richtung?

Zwar wagt sich eine Regierung das erste Mal seit zwölf Jahren an das Pflegegesetz heran und leistet Erste Hilfe. So sollen Heime und Pflegedienste künftig öfter kontrolliert werden. Die ambulante Pflege wird besser bezahlt, Tagespflege-Angebote besser ausgestattet. Fallmanager beraten künftig Pflegebedürftige und ihre Angehörigen, eine Million Demenzkranke im Land erhalten erstmals finanzielle Hilfe. Und pflegende Angehörige können eine Pflegeauszeit von bis zu sechs Monaten und bis zu zehn Akut-Pflegetagen im Jahr nehmen - bislang allerdings unbezahlt. Alles in allem soll dies mit einer Erhöhung der Pflegebeiträge um 0,25 Prozentpunkte finanziert werden.

Weil die Pflegeleistungen in den vergangenen zwölf Jahren einen Wertverfall von 13 Prozent erlitten, sollen sie ab 2015 alle drei Jahre an die Preissteigerung angepasst werden sollen. Denn die Frage der weiteren Finanzierung lässt die Große Koalition einfach offen. Damit ist die Pflegeversicherung lediglich für die kommenden sechs bis sieben Jahre stabilisiert, räumte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt gleich bei der Vorstellung ihres Entwurfs ein. Bitter - denn bis 2020 soll die Zahl der Pflegebedürftigen von heute 2,13 Millionen auf 2,8 Millionen steigen, heißt es beim Statistischen Bundesamt.

Minutenpflege, von Würde keine Spur

Wer die Pflegekassen jetzt nicht solide finanziert, den holt die alternde Gesellschaft ein. Dabei ist der Pflegebereich schon heute dramatisch unterfinanziert. Personelle Unterbesetzung, permanente Arbeitsüberlastung, unzumutbare Arbeitsbedingungen prägen seit Jahren den Pflegealltag, berichtet Gewerkschaftssekretärin Gabriele Feld-Fritz, bei ver.di zuständig für den Bereich Pflege. Eine Pflegekraft pro Nachtschicht für 30 und mehr Pflegebedürftige gilt mittlerweile als Standard. Bayern und Baden-Württemberg haben zudem angekündigt, die Fachkraftquote weiter senken zu wollen. "Dies alles ist ein großer Risikofaktor für die Pflegequalität", sagt Feld-Fritz. Und die Qualität der ambulanten Dienste und vor allem in den Heimen lässt zu wünschen übrig - das bestätigte zuletzt der Pflegebericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDS) Ende August. Durst, Hunger, Wundliegen - jeder zehnte alte Mensch im Pflegeheim trägt gesundheitliche Schäden durch mangelhafte Pflege davon, zuhause ist es jeder zwanzigste. Minutenpflege, von Würde keine Spur. Engagierten sich die Pflegekräfte nicht "bis zum Umfallen", gäbe es noch mehr Mängel, sagt die Gewerkschafterin.

Um so brisanter ist die abermals unzureichende Finanzierung der Altenpflege, warnen Experten, etwa vom Sozialverband Deutschland oder der Diakonie. "Als würde man einen Waldbrand mit der Wasserpistole löschen wollen" - so umschreibt der Pflegeexperte Claus Fussek von der Vereinigung Integrations-Förderung (VIF), die Menschen mit Behinderung und andere sozial Benachteiligte unterstützt, die jüngste Pflegereform. Der angekündigte "große Schritt" der Politik wird zu einem Auf-der-Stelle-treten. Also setzen sich andere in Bewegung: Bereits jetzt gehen Experten von etwa 100000 Schwarzarbeiterinnen aus Polen, Tschechien oder der Ukraine aus, die in deutschen Haushalten Pflegebedürftige rund um die Uhr versorgen. "In Zukunft werden noch mehr Familien die Hilfe aus dem Osten engagieren." Ein Umstand, der stillschweigend toleriert werde, behauptet Fussek. Zumindest eines ist gewünscht: Ambulant vor stationär gilt in der Pflegepoli-tik als einziges zahlbares Modell. Schon heute werden die meisten Pflegebedürftigen, 1,45 Millionen, zuhause betreut.

Fussek hält "das öffentliche Jammern über die so genannten Illegalen für heuchlerisch". Würden die geschätzten 100000 Schwarzarbeiterinnen ausgewiesen, müssten dafür rund 400000 legale Arbeitskräfte eingestellt werden. Die aber wolle oder könne offensichtlich niemand bezahlen, sagt er. Etwa 1000 Euro plus Essen und Unterkunft kostet eine illegale Kraft im Monat, heißt es in einem Bericht der Ärzte-Zeitung. Das ist unschlagbar billig - eine 24-Stunden-Pflege legal zu organisieren, bedeutet etwa 10000 Euro im Monat, sagt Gabriele Feld-Fritz. Die Pflegeversicherung jedoch ist nur eine Teilkasko-Versicherung. Höchstsatz 1550 Euro monatlich für ambulante Betreuung. Eine arbeitsrechtlich korrekte Rundum-Versorgung ist dafür nicht annähernd zu haben.

"In der Tat scheint es eine gesellschaftliche Akzeptanz dafür zu geben, dass osteuropäische Frauen als ungeschützte Arbeitskräfte - legalisiert oder illegalisiert - in privaten Pflegehaushalten ausgebeutet werden", bestätigt Feld-Fritz. Und die Politik dulde dies, damit an den Glaubensgrundsätzen "freier Markt" und "Senkung der Lohnnebenkosten" nicht gerüttelt werden müsse. "Dass dabei Lohndumping und die Zerstörung regulärer Arbeitsplätze in Kauf genommen werden, ist unglaublich", sagt die Gewerkschafterin. Zum Schutz für die Beschäftigten setzt Gabriele Feld-Fritz auf gesetzliche Regelungen: "Wir brauchen als unterstes Auffangnetz dringend die Ausdehnung des Entsendegesetzes auf alle Branchen und einen gesetzlichen Mindestlohn." Jedoch behält sich die Bundesregierung diverse Ausnahmeregelungen von der inzwischen europaweit gültigen Entsenderichtlinie vor. Und so gilt in der Pflege noch nicht, was auf Baustellen inzwischen üblich ist: Wanderarbeiter/innen aus dem Ausland werden zu hiesigen Tarifbedingungen beschäftigt.

Gute - und dabei legale - Pflege ist zu diesen Bedingungen nicht zu haben, darüber sind sich die Kritiker einig. "Pflege ist kein marktfähiges Produkt, sie muss für die Kunden bezahlbar sein und daher subventioniert werden", sagt Fussek von der VIF. Der ver.di-Sekretär Herbert Weisbrod-Frey fordert daher, dass alle Einkommen zur Finanzierung der Pflege herangezogen werden, wie es die Bürger/innenversicherung vorsieht. Ein Skandal sei, dass Besserverdienende in die private Pflegeversicherung abwandern könnten, sagt Weisbrod-Frey: "Für uns darf Solidarität nicht an der Beitragsbemessungsgrenze enden." Trotz gleicher Leistung bei gesetzlicher und privater Pflegeversicherung reichen die Beiträge bei der gesetzlichen gerade aus, während es bei der Privaten derzeit 18 Milliarden Euro Überschüsse gibt. "Grund ist aber nicht, dass die einen besser wirtschaften können als die anderen", sagt Weisbrod-Frey, "ärmere Menschen werden schlicht früher und häufiger pflegebedürftig." Und von den Milliarden-Überschüssen in der privaten Pflegeversicherung profitieren nur die Versicherungskonzerne.

Doch das Modell der Bürger/innenversicherung ist derzeit politisch nicht mehrheitsfähig. Während sich die SPD noch vor Eintritt in die Große Koalition für ein entsprechendes Modell stark machte, akzeptiert sie nun eine Finanzspritze aus den Privatkassen, um die Reform zu retten. Und die Union, Verfechterin der "Kopfpauschale", will am liebsten gleich eine "Kapitaldeckung." Mit anderen Worten: Jeder sorge für sich selbst.

Gute Pflege ist...

wenn die Menschenwürde garantiert ist, Teilhabemöglichkeiten am Leben gefördert werden und ausreichende und qualifizierte Angebote zur Verfügung stehen, die finanziert und so allen zugänglich sind.

wenn sie solidarisch finanziert ist. Die Pflege kann nicht den Kräften des freien Marktes überlassen werden. Nach einer Berechnung des Gesundheitsökonomen Karl Lauterbach, jetzt Bundestagsabgeordneter der SPD, bringt die Bürgerversicherung netto rund vier Milliarden Euro mehr ins System.

wenn die Leistungen der Pflegeversicherung so angepasst werden, dass sie tatsächlich geeignet sind, Sozialhilfebezug zu vermeiden. 2004 waren rund 330000 Pflegebedürftige auf Sozialhilfe angewiesen, nach Angaben des Sozialverbandes Deutschland steigt diese Zahl wieder.

wenn der individuelle Bedarf berücksichtigt wird und so die Bedürfnisse psychisch kranker und altersverwirrter Menschen mit erfasst werden. Der Begriff der Pflegebedürftigkeit im Pflegeversicherungsgesetz muss also umfassender sein und darf nicht nur körperliche Defizite berücksichtigen.

wenn sie verknüpft ist mit Prävention, medizinischer Versorgung und Rehabilitation. Das aber findet nicht statt.

wenn entsprechend dem individuellen Bedarf ambulante und stationäre Pflege kombiniert werden können und professionelle und häusliche Pflege besser miteinander abgestimmt sind.

wenn die Qualität der Dienstleistung sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für die Pflegenden stimmt. Gesicherte Arbeitsbedingungen, die nicht krank machen, befördern die Qualität der Pflege. Dazu gehört insbesondere, dass Pflegende angemessen tariflich bezahlt werden - das sind zwischen 2000 und 2500 Euro brutto im Monat. Stattdessen herrschen Lohndumping und Deregulierung der Arbeitsbedingungen vor. In strukturschwachen Gebieten werden Gehälter von fast 30 Prozent unter Tarif gezahlt, das ist beinahe sittenwidrig.

wenn genug gut aus- und fortgebildete Fachkräfte zur Verfügung stehen. In einem Heim sind dies mindestens eine Pflegefachkraft für zwei Pflegebedürftige.

wenn für Pflegedienste und Pflegeeinrichtungen eine aufwandsgerechte verbindliche Personalbemessung eingeführt ist, diese bezahlt und auch kontrolliert wird.

wenn für den wachsenden Pflegebedarf in der Zukunft genügend und geeignetes Personal gewonnen werden kann. Mindestens 700000 neue Arbeitskräfte werden bis 2030 im Bereich der Pflege gebraucht, ergibt eine Hochrechnung anhand einer Prognose des Statistischen Bundesamtes. Die Pflegeberufe müssen vor allem für Jüngere als Erstberuf attraktiver werden. Derzeit erhalten jedoch die meisten Altenpflegeschüler/innen zwischen 300 und 500 Euro brutto und müssen zudem, je nach Bundesland, zwischen 100 und 300 Euro für ihre theoretische Ausbildung zahlen. ver.di fordert hier eine Ausbildungsvergütung von durchschnittlich 800 Euro brutto und den Wegfall des Schulgeldes.