Ein hessischer Fachbereich fragt die Beschäftigten und schafft Beratungsangebote

von RENATE BASTIAN

Wenn zwei Seiten etwas einbringen und beide Seiten gleichwertig etwas davon haben - das nennt man fair. Das Gegenteil ist der Fall, wenn die einen geben und die anderen nur nehmen. Fair ist eine Arbeit, in der man seine persönlichen Fähigkeiten entfalten kann; fair ist, wenn man seine Gesundheit schonen kann; fair ist eine angemessene Zeit für die Familie; fair ist, wenn man nicht "auf allen Vieren" in die Rente kriecht und wenn das Geld zum Leben stimmt. Dies sind häufig formulierte tarifliche Grundsätze. Der Fachbereich Finanzdienstleistungen bei ver.di Hessen berichtet aber von stärker werdenden Klagen über die Belastungen in den Betrieben dieses Sektors. In einem Unternehmen ist es der dramatische Personalabbau bei gleich bleibendem und steigendem Arbeitsanfall, woanders sind es Leistungs- und Verkaufsdruck, problematische Führungsmethoden oder Jagd auf so genannte Low-Performer, also "Minderleister". Die Krankenkassen registrieren bereits, dass zwar kurzfristig die Krankmeldungen zurückgehen, wohl auch aus Angst um den Arbeitsplatz, dass aber Langzeiterkrankungen, insbesondere psychische, zunehmen.

Faire Arbeit - Mensch - nicht Kostenfaktor. So heißt eine Kampagne der hessischen Finanzdienstleister. Von September 2007 bis Ende Februar 2008 führte der ver.di-Fachbereich zusammen mit Betriebs- und Personalräten eine Umfrage in den Bereichen Versicherungen, Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken in Hessen durch. Die Ergebnisse lagen Mitte März vor und wurden in einem Seminar ausgewertet. Es zeigte sich, dass in den Betrieben eine "Dynamik der Maßlosigkeit" vorherrscht: immer mehr, immer schneller, immer billiger. Wer sich Gedanken macht, ob eine solche Treibjagd überhaupt produktiv sein kann, hat sich schon geoutet, und zwar als Low-Performer. In fast allen Häusern macht sich dies besonders im Vertrieb bemerkbar. "Was mich am meisten stresst:", so ein Beschäftigter, "neben den Zielvorgaben gibt es ständig weitere Aktionen. Nach einer Schulung zum Beispiel müssen die entsprechenden Produkte innerhalb kürzester Zeit verkauft werden. Statt ganzheitlicher Beratung zählt nur noch der Verkauf. Das geht mir an die Substanz, weil ich mich als Berater fühle und Kunden zufrieden stellen möchte."

Verwunderlich ist schon, dass den Geschäftsleitungen so gar nicht die Ergebnisse der neueren Forschung zur Arbeits- und Organisationspsychologie zu denken geben. Freude in der Arbeit und ein aktives Leben nach der Arbeit, eingeschlossen eine gute Erholungsfähigkeit, gelten als Grundlage für Effektivitätssteigerung.

Wie ver.di Hessen nun mit diesen Erkenntnissen umgeht? In regionalen Veranstaltungen sollen sich die Beschäftigten beraten können, Betriebs- und Personalräte können zusammen arbeiten und sich gegenseitig unterstützen. Denkbar sind betriebliche Gesundheitszirkel während der Arbeitszeit. Außerdem werden spezielle Seminare angeboten. Selbstkritisch weiß man aber auch, dass man mehr Mitstreiterinnen und Mitglieder braucht, um diese Themen erfolgreich anzupacken. Dann könnte es in den Unternehmen fairer zugehen. Davon hätten beide Seiten etwas.

Aufklären und werben: Kolleginnen und Kollegen im Einsatz für faire Arbeit

Das ergab die Umfrage:

  • 80 Prozent fühlen sich durch die Arbeit häufig absolut oder teilweise gestresst.
  • 78 Prozent befürchten bei steigenden Arbeitsanforderungen eine Gefährdung beziehungsweise teilweise Gefährdung der Gesundheit.
  • 44 Prozent haben bereits jetzt gesundheitliche Probleme auf Grund ihrer Tätigkeit.
  • 72 Prozent haben Zielvorgaben, die sie nicht oder teilweise nicht erreichen können.
  • 45 Prozent schaffen es kaum, die Arbeit während der vertraglichen Arbeitszeit zu erledigen.
  • 86 Prozent sehen eine spürbare Verschlechterung des Betriebsklimas in den letzten Jahren.

Die Ursachen für die Belastungssituation sind vielfältig und je nach Teilbranche und Unternehmen anders ausgeprägt. Am meisten fühlen sich die Beschäftigten belastet:

  • durch die zu geringe Personaldecke und Personalabbau,
  • durch übersteigerte Zielvorgaben und Druck von Vorgesetzten,
  • durch derzeitige Organisationsstrukturen.