Unterwegs als Zustellerin - auf der Suche nach einem Zweitjob in Brandenburg

Der geschickte Wurf. Allein die Zeit zählt

Fast täglich erscheinen in Deutschland Jobanzeigen, in denen Zeitungszusteller gesucht werden. Sie versprechen kurze Arbeitseinsätze zwischen drei und sechs Uhr, tagsüber freie Zeit und einen netten Nebenverdienst. Ich versuche es. Die Zeitung lese ich selbst jeden Tag. Jetzt soll ich sie austragen, in meiner Nachbarschaft, per Auto, jeden Morgen, sechs Mal in der Woche. Ich kann das auch am siebenten Tag, das steht mir frei. Wie wird der Job bezahlt, frage ich. "Pro Zeitung sechs Cent und pro Kilometer 18 Cent", antwortet der Mann am Telefon. Ob ich Probe arbeiten möchte. Stell dich nicht so an, denke ich und sage zu. Ich werde doch wohl morgens um halb drei Uhr Zeitungen austragen können? Dass der Mann von der Agentur nicht sagt, wie lang die Tour ist und wie viele Zeitungen verteilt werden sollen, macht mich misstrauisch. Ich rechne: Wenn es 100 Zeitungen sind, komme ich auf sechs Euro.

Um dreiviertel zwei

Ich bin um acht Uhr ins Bett gegangen, kurz nach meiner fünfjährigen Tochter. Im Badezimmer liegen meine Klamotten, damit ich niemanden wecke. Ich werde nur einen Kaffee trinken und losfahren. Um 1 Uhr 45 klingelt der Wecker.

Die Autos sind alt, klein und verrostet. Drei stehen am Treffpunkt, ich steige zu Peter S. in den Wagen. Zeitungszusteller ist der Zweitjob des Mittdreißigers, von 14 bis 22 Uhr arbeitet er als Handwerker. Ein Lieferwagen rast mit quietschenden Reifen heran. "Die Zeitungen kommen", ruft Peter und steigt aus. In wenigen Minuten haben alle ihre Pakete aus dem Lkw gehievt und in den Autos verstaut. Peter öffnet die ersten und legt sie auf das Armaturenbrett. Es sind drei verschiedene. Dann liest er die Mitteilungen der Agentur über neue Abonnenten und Urlauber, die den Bezug unterbrechen. In der Mittelkonsole liegt sein Tourenbuch, das er jeden Morgen aktualisieren muss.

Die Frau, die mit ihrer knapp 20-jährigen Tochter jeden Morgen fünf Touren fährt, rast an uns vorbei. "Tempo-30-Zonen kannst du um diese Zeit vergessen", sagt Peter, "sonst bist du nicht schnell genug." Jetzt sind auch wir auf Tour. Es sind, wie befürchtet, nur 100 Zeitungen. Und zwölf Kilometer zu fahren.

Nach zehn Minuten steige ich zum ersten Mal aus. Ab jetzt gehört die rechte Seite mir. Es ist die kleinste Tour des Gebiets, für Anfänger. Wenn man sich eingewöhnt hat, brauche man dazu keine drei Stunden, sondern anderthalb, erklärt Peter, dann könne man noch andere Touren übernehmen. Er fahre noch eine doppelt so große. "Ohne Zweitjob geht es nicht", sagt er und redet von seiner Patchwork-Familie.

Im Laufschritt

Ich lerne, dass man im Laufschritt arbeiten muss und wie man Zeitungen so rollt, dass sie in jeden noch so unpraktischen Briefkasten passen. Ich höre, dass einige Abonnenten sich sofort beschweren, wenn die Zeitung nach 5 Uhr 30 Uhr kommt. Eine habe gedroht, Poller aufzustellen, wenn er noch einmal auf dem Grünstreifen direkt vor dem Briefkasten hält, sagt Peter. Bei Regen sei das Austragen eine Qual, erfahre ich, Eis und Schnee habe er noch nicht mitgemacht, er fahre erst seit Februar. Sein Auto sei bereits zweimal repariert worden, das dauernde Anfahren und Bremsen sei Gift für die alte Karre. Auch für ihn, denke ich.

Nach einer guten Stunde setzt mich Peter wieder an meinem Auto ab. Er fragt nicht, ob ich den Job haben will, sondern gibt mir den Tipp, mich noch heute bei der Agentur zu melden. Ich bin mir nicht sicher, ob er diese Tour tatsächlich abgeben will. Später denke ich, dass man ihm bestimmt eine bessere versprochen hat, wenn er eine neue Kollegin gewinnen kann. Ein Schneeballsystem, das ich dann auch mitmachen müsste.

Ich rechne: Knapp 100 Zeitungen mit je sechs Cent, sechs Euro pro Tag. Zwölf Kilometer Autofahrt kommen mit 2,16 Euro dazu. Sechsmal in der Woche, macht 48,96 Euro in der Woche. Im Monat 195,84 Euro. Für 54 Stunden Arbeit. Minus Benzin. Gegen neun Uhr morgens stellt sich bei mir Übelkeit ein. Die Zeitung lese ich an diesem Tag nicht mehr.

Zweitjobs

7,6 Prozent der 30 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland brauchen einen Zweitjob, um leben zu können, mehr als 2,2 Millionen Menschen. Sie tragen zum Beispiel Zeitungen aus, kellnern, leisten Wachdienste oder putzen. Ihre Arbeitstage sind häufig länger als zwölf Stunden, 60-Stunden-Wochen sind oft Normalität.

Zeitungszusteller/innen

In Deutschland arbeiten mehrere hunderttausend Zeitungszusteller/innen in ca. 300 Zustellgesellschaften bzw. Zeitungsverlagen. Sie bekommen in der Regel Stücklohn mit unterschiedlichen Zulagen, etwa für Wege- oder Wartezeiten, Fahrstrecken oder Beilagen. Stundenlohn einschließlich Nachtzuschlag: im Schnitt rund acht Euro.

Es gibt einen regionalen und zwei Firmentarifverträge, die lange nicht aktualisiert wurden. Tarifverhandlungen auf Branchenebene scheinen derzeit kaum möglich; ein tariffähiger Arbeitgeberverband fehlt. ver.di will durch Haustarifforderungen Bewegung in die Branche bringen. Es bestehen circa 50 Betriebsräte, teilweise sind die Zusteller in den Betriebsräten der Verlage vertreten.https://zeitungszusteller.verdi.de