Maria Kniesburges ist Chefredakteurin der ver.di PUBLIK

Die einen greifen Milliarden an Steuergeldern ab zur Sanierung des Finanzkasinos, die anderen erstellen Expertisen, wie die ohnehin erbärmlichen Regelsätze der Hartz-IV-Empfänger noch weiter unter das Existenzminimum gedrückt werden können. Denn je tiefer das Niveau nach unten sinkt, desto gesellschaftsfähiger wird der Hungerlohn. Das ist der Zustand der Republik nach sieben Jahren Rot-Grün und rund dreieinhalb Jahren Schwarz-Rot.

Im vergangenen Herbst, während die gigantischen Spekulationsblasen der Zocker-Banken gerade reihenweise zu platzen begannen und die Global Player des Finanzkapitals nach dem Staat zu rufen anhoben, legte

der Finanzwissenschaftler Friedrich Thießen ein Gutachten vor. Ein Hartz-IV-Empfänger, heißt es da, könne von 132 Euro im Monat leben. Der derzeit geltende Regelsatz in Höhe von 351 Euro, so rechnet der Professor vor, liege "weit oberhalb des physischen Existenzminimums", wo dann wohl der Hungertod beginnt. Professor Thießen ist Inhaber des ersten Lehrstuhls für Investmentbanking an der Technischen Universität Chemnitz, und der wird mitsamt seinem Inhaber finanziert von der Commerzbank. Deren geschicktes Investmentbanking hat die Steuerzahler inzwischen bekanntlich zweistellige Milliardensummen gekostet. Ob das reichen wird, weiß derzeit

niemand wirklich, weil noch längst nicht klar ist, wie viele Giftpapiere noch in den Geheim-Bilanzen der Investmentbanker stecken. So macht die Berechnung der Hungergrenze, die der Professor präsentiert, doch erst richtig Sinn. Schließlich braucht man Anhaltspunkte, wie viel ganz unten noch zu holen ist, wenn die Herren des Finanzkapitals in die selbst gemachten Pleiten rutschen.

Andere Vertreter des reinen neoliberalen Geistes unterbreiten derweil Vorschläge, wie die Menschen am unteren Existenzminimum noch ein, zwei Euro für den kargen Einkauf beim Discounter hinzu verdienen könnten. Etwa durch das Fangen von Ratten, die sich im Wohlstandsmüll der Hauptstadt unerfreulich stark verbreitet haben. Das jedenfalls hat der FDP-Chef von Berlin-Mitte und Fraktionsvize im Berliner Abgeordnetenhaus, Henner Schmidt, erst kürzlich angeregt. Jawohl, das hat er, auch wenn es kaum zu glauben ist. Hartz-IV-Empfänger wühlten ja ohnehin ständig im Müll herum, um Pfandflaschen zu suchen, meinte der Mann, da könnten sie ja auch gleich ein paar Ratten erlegen. Pro totem Nager, so das Vergütungsmodell des Liberalen, soll es einen Euro Cash geben, Köder und Fallen stellt kostenlos das Gesundheitsamt. Schmidt hat sich inzwischen für seinen so menschenverachtenden wie aberwitzigen Vorschlag formal entschuldigt, auf seinem politischen Posten sitzt er aber immer noch.

Das war bislang der widerlichste Vorschlag, was die Entwürdigung der Armen im Wohlstandsland angeht. Andere kommen wohlklingender daher, haben aber das gleiche Ziel: den Druck nach unten noch einmal gehörig verstärken und herausholen, was herauszuholen ist. "Workfare" nennt sich eine Studie, die seit Monaten griffbereit im Bundeswirtschaftsministerium liegt. Danach sollen ALG-II-Empfänger zu 39 Stunden so genannter "Bürgerarbeit" pro Woche verpflichtet werden können. Entlohnt werden sollen sie dafür "auf dem Niveau der Grundsicherung", was immer das in Zukunft heißen mag, wenn man nur an die Zahlen des Commerzbank-Professors denkt. "Workfare", angelehnt an das englische welfare (Wohlfahrt), muss übersetzt dann wohl Arbeitsdienst heißen. Damit, so lassen die Workfare-Experten wissen, könnten zweistellige Milliardensummen in den öffentlichen Haushalten eingespart werden, schon weil die kostspieligen öffentlichen Beschäftigungsprogramme ersatzlos gestrichen werden könnten. Nicht nur das: Der Arbeitsdienst am Existenzminimum sei ein geeigneter Beitrag zur neuerlichen Senkung des gesamten Lohnniveaus - und da will man schließlich hin.

In einem Land, in dem das Haben und Nehmen regiert, gedeihen die Zynismen, verliert sich jedes Maß. Da berechnet ein sozialdemokratischer Finanzsenator in Berlin Billig-Menüs für Hartz-IV-Empfänger, um den Nachweis zu führen, dass es auch mit noch kleineren Hartz-IV-Sätzen getan wäre, während ein Jobcenter im Norden der Republik "Ein-Euro-Jobs für Übergewichtige" ausschreibt. Ja, auch das ist wahr, übergewichtige ALG-II-Empfänger bauen derzeit in Flensburg einen Fitness-Parcours. Respekt? Würde? Bei der radikalen Umverteilung von unten nach oben ist das nur Ballast.

Ein Jobcenter im Norden der Republik schreibt "Ein-Euro-Jobs für Übergewichtige" aus. Ja, das ist wahr