Christine Ax ist Philosophin, Politologin und Ökonomin

ver.di PUBLIK | Lebenslanges Lernen gilt als beste Vorsorge, um am Arbeitsmarkt bestehen zu können – doch nur wenige Deutsche bilden sich ständig fort. Was heißt das für die Zukunft des Landes?

Christine Ax | Ich sehe das zentrale Problem anderswo. Das Geschäftsmodell Deutschland, das seinen Schwerpunkt im Export hat, stößt an seine Grenzen. Die Kehrseite dieser Politik ist, dass Lohnquote und Binnennachfrage sinken. Die Politik tut so, als ob die deutsche Bevölkerung gegen diese Verhältnisse anlernen könnte. Für den einzelnen mag das stimmen - aufs Ganze betrachtet, ist das reine Ideologie.

ver.di PUBLIK | Also halten sie Bildung für vergebliche Liebesmüh?

Ax | Ich halte Bildung für den zentralen Schlüssel zum guten Leben. Wir müssen sehr viel in Bildung investieren – jeder für sich selber und die Gesellschaft insgesamt. Aber es wird immer der Eindruck erzeugt, als ob der Mangel an Bildung die Ursache unserer aktuellen Probleme sei. Das ist nicht der Fall. Es gibt mehr Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz unterfordert als überfordert sind.

ver.di PUBLIK | Aber wir sind aus finanziellen Gründen auf Erwerbsarbeit angewiesen – und da bekommt man mit mehr Qualifikationen immer noch einen besseren Job.

Ax | Das mag für den Einzelnen zutreffen. Aber so wie die Verhältnisse heute sind, geht es im Wettbewerb immer gegen andere Menschen. Wir produzieren auf diese Weise immer nur mehr und besser qualifizierte Verlierer. In Deutschland fehlen mindestens fünf Millionen Erwerbsarbeitsplätze. Die Arbeitgeber greifen immer auf die bestqualifizierten, jungen Menschen zu – und dafür fallen andere raus. Die Notwendigkeit von Wachstum wird immer damit legitimiert, dass dabei dann neue Jobs entstehen - egal, welche Qualität sie haben. Damit sind wir sozial und ökologisch an der Grenze.

ver.di PUBLIK | Welche Alternative sehen Sie?

Ax | Wir sollten uns erinnern, welche Ideale die Arbeiterbewegung einmal hatte. Sie verfolgte ja nicht das Ziel, die Industriegesellschaft zu verewigen. Vielmehr hoffte sie, die Menschen von der Erwerbssklaverei durch die Entfaltung der Produktivkräfte zu befreien.

ver.di PUBLIK | Was heißt das?

Ax | Nur zehn Prozent unserer Lebenszeit verbringen wir heute in der Arbeitswelt. Deshalb ist es absurd, unser Bildungswesen noch stärker auf die Erwerbsarbeit auszurichten, wie es momentan geschieht. Die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf zwölf Jahre gehört ebenso dazu wie die Bachelorstudiengänge, die auf eine rasche ökonomische Verwertbarkeit von Bildung abzielen. Da ist immer weniger Raum für eigene Gedanken und eine umfassende Betrachtung komplexer Fragen – was aber in einer zukunftsfähigen Gesellschaft immer wichtiger wird.

ver.di PUBLIK | Welche Form von Bildung ist da angemessen?

Ax | Es kommt darauf an, den Teil an Bildung zu stärken, der den ganzen Menschen fördert. Gegenwärtig gehen immer mehr Fähigkeiten verloren – das fängt beim Kochen an. Da muss es viel mehr Angebote und Orte geben, wo vieles ausprobiert und gelebt werden kann. Doch heute ist fast der gesamte öffentliche Raum privatisiert. Am kulturellen Leben teilnehmen kann man fast nur noch über Geld.

INTERVIEW: ANNETTE JENSEN

Christine Ax ist Mitinhaberin des fx-Instituts für zukunftsfähiges Wirtschaften in Berlin und Hamburg. Gerade erschienen ist ihr neues Buch: Die Könnensgesellschaft. Mit guter Arbeit aus der Krise, Rhombos-Verlag, Berlin 2009, 276 Seiten, 29,80 €

"Da ist immer weniger Raum für eigene Gedanken und eine umfassende Betrachtung komplexer Fragen – was aber in einer zukunftsfähigen Gesellschaft immer wichtiger wird"