Ausgabe 11/2009
In der Vertriebshölle
Nach zehn Minuten Beratungsgespräch zittern die Hände, werden feucht, der Blutdruck steigt
VON HEIDE PLATEN
Georg L. (38) war ein ausgeglichener, fröhlicher junger Mann. Jetzt ist er das nicht mehr. Der Privatkundenberater der Filiale eines Kreditinstituts in Hessen leidet sichtlich beim Kundengespräch. Er braucht unverhältnismäßig lange, das Computerprogramm zu bedienen. Alles scheint ihm umständlich, nach zehn Minuten Gespräch zittern seine Hände, werden feucht, der Blutdruck steigt. Er bekommt einen hochroten Kopf. "Wie auch", sagt er hinterher, "soll ich der gerade verwitweten Rentnerin einerseits erklären, warum sich mehr als zwei Drittel der in vermeintlich einmal zukunftsträchtig angelegten 90 000 D-Mark verflüchtigt haben. Und ihr andererseits schon wieder etwas andrehen, wovon ich nicht überzeugt bin?"
Das Ende der kundenorientierten Beratung
Er hatte sie mit einem Telefonanruf zum Beratergespräch locken müssen. Das lernt man in der Schulung, zuerst todernst und gewichtig: "Wir müssen wirklich über Ihre Anlagen reden!" Dann optimistisch: "Wir wollen Ihr Vermögen doch optimieren!" "Wie denn?", fragt er sich selbst. Der Ehemann der Frau hatte vor zehn Jahren nach einer Beratung in L.s Zweigstelle vor allem auf die geplatzte Technologieblase gesetzt. Hier bin ich sicher, hatte sie sich gedacht und sich nicht weiter gekümmert. L. ist gehalten, sie zu überreden, zu verkaufen und sofort wieder in, seiner privaten Meinung nach, zwar relativ sichere, aber zu teure bankeigene Zertifikate zu investieren, am besten auch noch, ihr bei Konkurrenzbanken angelegtes Geld ins eigene Haus herüberzuziehen: "Der Rubel muss rollen, sonst kriege ich Druck!" "Das ist doch viel übersichtlicher für Sie", argumentiert er etwas kläglich. Vergeblich, denn die Kundin ist misstrauisch und will nur noch ihr Sparbuch und ein Festgeldkonto.
Dass der Stress bei den Angestellten vieler Kreditinstitute in den vergangenen Jahren enorm zugenommen hat, belegt ver.di-Bundesvorstand Uwe Foullong mit Statistiken und Befragungsergebnissen. Verfehlte Unternehmenspolitik, Finanzkrise, Stellenabbau, zunehmender Verkaufsdruck von oben, beinharte Leistungskontrollen hätten nicht nur zu einer Demotivation der Mitarbeiter, sondern auch zu einer "Vertrauenskrise" bei den Kunden geführt: "Die Beschäftigten sind die Leidtragenden eines rigide gewordenen Vertriebssystems. "Der massive, psychische Druck" auf die Mitarbeiter sei stetig gewachsen. Diese Missstände seien der "Niedergang der Vertriebs- und Verkaufskultur" und das Ende "der kundenorientierten Beratung". Er fordert, "das Kundeninteresse wieder in den Mittelpunkt zu stellen". Der Gesetzgeber müsse ein Mindestmaß an Qualifikation festlegen und produktbezogene Verkaufsvorgaben verbieten.
Foullong verlangt die parlamentarische Kontrolle der Finanzmärkte: "Das geht nur durch eine Behörde." Außerdem müssten die Gehälter abgesichert werden, nach oben ebenso begrenzt wie nach unten. Er kritisiert, dass die Banken bei den Gehältern "immer mehr zu Malus-Systemen übergehen". Es gebe Gehaltsabzüge, wenn die Verkaufsvorgaben nicht hundertprozentig erreicht würden: "Das wäre eine Bestrafung!" "Eine Art TÜV für neue Produkte" und für alle verständliche Informationsblätter sollten in Zukunft Verbraucher und Kundenberater vor Fehlentscheidungen schützen. Der Gesetzgeber müsse lenkend eingreifen, zum Beispiel mit einer Regulierung der Finanzdienstleistungsmärkte, einer Finanztransaktionssteuer und schärferen Kartellgesetzen. Die Arbeitsplätze müssten gesichert sein. Wenn der Staat Banken helfe, seien soziale Auflagen erforderlich. Es sei "ein Schuss ins Knie", wenn Arbeitnehmer mit Hilfe von Steuergeldern "auf die Straße gesetzt werden".
"Wenn Schlagen erlaubt wäre, würden sie es tun!"
Währenddessen sinken die Beschäftigtenzahlen kontinuierlich. Bei Privatbanken waren es von 2000 bis 2008 über 20 Prozent, bei den öffentlichen 9,5 und den Sparkassen 8,5 Prozent. Die Belegschaften schrumpften um fast 100 000 Mitarbeiter von 675 000. Die Zahl der Kreditinstitute verringerte sich in zehn Jahren um 30, die der Zweigstellen um 37 Prozent. Eine im Sommer von ver.di in Nordrhein-Westfalen im Internet zum Thema "Verkaufsdruck" geschaltete Abstimmungsseite enthält sieben Forderungen. Über 2 500 Bankangestellte antworteten und kommentierten. Sie alle haben, wie Georg L., in der Anonymität den Mut gefunden, ihre Situation zu beschreiben. Sie berichten von "Vertriebshölle", "absoluter Unerträglichkeit", dem Gefühl, von Chefetagen und Vorgesetzten nur noch gemobbt und abgestraft zu werden: "Wenn Schlagen erlaubt wäre, würden sie es tun!" Foullong konstatiert Vertriebsmethoden "die an Drückerkolonnen erinnern". Viele Beiträge sind nicht von Wut, sondern von Enttäuschung, Trauer und Resignation geprägt: "Man muss sich einfach schämen für seine tägliche Arbeit!" Ein Report der Betriebskrankenkassen weist für das Kredit- und Versicherungsgewerbe für das Jahr 2007 eine signifikant höhere Rate an psychischen Erkrankungen auf als im sonstigen Bundesdurchschnitt. Sie liegt mit 13 rund vier Prozent höher.
Georg L. ist der Spaß an seinem Beruf gründlich vergangen. Er nimmt Psychopharmaka, Aufheller, um den Arbeitstag zu überstehen. "Früher", erinnert er sich wehmütig, "mein Vater, der war als Bankbeamter noch eine Respektsperson." Er fühle sich eher behandelt "wie ein Gauner und Betrüger". Manchmal sagt er neuen Bekannten, er arbeite als Steuerberater.