Ausgabe 06/2010-07
Lernidylle für frisch gewählte Betriebsräte
Auch für Erfrischung wird auf Nachfrage sogleich gesorgt
VON Annette Jensen
Neun Uhr vormittags. Normalerweise liegt Thorsten Grüttgen um diese Zeit im Bett - erschöpft von einer Nachtschicht, in der er bei Temperaturen um den Gefrierpunkt Fleischbatzen mit Folie umwickelt hat. Jetzt sitzt er in einem Seminarraum der ver.di-Bildungsstätte Lage-Hörste, blickt in eine idyllische Waldlandschaft und ist hellwach. Vor ein paar Monaten ist Thorsten Grüttgen erstmals in den Betriebsrat gewählt worden, so wie alle hier im Raum.
Auf jedem Tisch lagert ein roter Wälzer - ein Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz. Kleingedruckt stehen darin Artikel, Paragrafen und Verweise auf Urteile; auf den ersten Blick eine unzugängliche Informationsflut. Doch Seminarleiterin Karin Wagner lässt Berührungsängste gar nicht erst aufkommen. "Aller Anfang ist gar nicht so schwer", heißt der einwöchige Kurs, bei dem die frisch gewählten Mitarbeitervertreter Rüstzeug für ihre neue Aufgabe bekommen. Zunächst zögerlich, dann zunehmend fasziniert blättern viele in den Gesetzestexten. Nichts ist hier abstrakt, schließlich sind auch die Probleme in ihren Betrieben ganz konkret. Thorsten Grüttgen findet, Rewe müsse den Kollegen der Fleischverarbeitung wärmere Jacken zur Verfügung stellen. Markus Weber, der in Düsseldorf für die Sicherheit in Messehallen sorgt, will durchsetzen, dass sein Arbeitgeber die sowieso schon überlangen Arbeitszeiten endlich einhält. Und der bei einem Bildungsträger angestellten Sozialpädagogin Stefanie Fendler geht es zunächst darum, die "hanebüchene" Informationspolitik ihrer Chefs zu durchbrechen.
"Wir haben keine Allheilmittel für Euch, aber konkrete Ansatzpunkte, wie Ihr die Probleme in Euren Betrieben angehen könnt", verspricht Karin Wagner. In Kleingruppen wird erarbeitet, wofür Betriebsräte überhaupt zuständig sind, was sie dürfen, was sie sollen. Zum Beispiel für die "Eingliederung Schwerbehinderter und sonstiger schutzbedürftiger Personen" sorgen. "Hat der Betriebsrat also die Aufgabe, Alkoholkranke vor Kantinenpudding mit Schuss zu bewahren?", will jemand wissen. Gleich entspinnt sich eine lebhafte Diskussion über den Umgang mit Leuten, die eine Fahne haben. Der Müllwerker Ralf Klocke hatte deshalb einen Kollegen angesprochen, von dem jedoch eine rüde Abfuhr kassiert. Eine Betriebsvereinbarung wäre in solch einem Fall sehr hilfreich, dann sei nicht der einzelne der Dumme, erklärt Karin Wagner. Und ihr Kollege schiebt gleich nach, wie so eine Betriebsvereinbarung zustande kommt.
Was hat Harry Linhart zu berichten?
Eine Tür weiter tagt eine Gruppe Zeitungszusteller. Die Lohnspanne in der Branche bewegt sich zwischen niedrig und ganz niedrig - auch in Westdeutschland kommen die Beschäftigten mancherorts nicht mal auf vier Euro pro Stunde. "Seit ein paar Jahren schmeißen die uns mit Reklame voll, am Wochenende müssen wir die Tour deshalb zweimal gehen", berichtet Mathias Haubrok. Gespannt lauscht er, was Harry Linhart, Betriebsrat bei den Badischen Neuesten Nachrichten, zu berichten hat. Dort gibt es seit langem einen Tarifvertrag, den Harry selbst mit ausgehandelt hat. "Es ist total wichtig, erst mal einen Überblick zu kriegen, was anderswo los ist", sagt Mathias Haubrok überzeugt. Zugleich genießt er den Kontakt mit Berufskollegen; schließlich ist sein Arbeitsalltag im Morgengrauen ausgesprochen einsam.
Meist vier Kurse laufen in Lage-Hörste parallel. Außer Schulungen für Betriebsräte und Vertrauensleute gibt es auch Angebote für ganz normale Mitglieder: "Weltkunst - Kunstwelt" zum Beispiel oder die "Zukunft von Radio und Fernsehen in Zeiten des Internets". Medien sind hier ein Programmschwerpunkt.
Während oben gelernt wird, saust unten in der Küche Elvira Kochanke von der Vorratskammer zur Pfanne, kippt fast im Vorbeigehen Brühe hinzu und eilt weiter zu den Backblechen mit Zucchini. Ihre Kollegin Ina Müller huscht in den Kräutergarten und kehrt mit frischer Minze zurück - Dekoration für die Sahnegrütze. So gut wie alles bereiten die beiden Frauen frisch zu, auch für Vegetarier ist immer etwas dabei. Zwei Stockwerke höher feudelt Ulrike Gerhard die Gästezimmer, von denen die meisten nicht nur eine schöne Aussicht, sondern sogar einen Balkon haben. An der Rezeption organisiert Anette Hein-Schwarze derweil den für die Mittagspause geplanten Ausflug zu einer Gedenkstätte, für den sich heute 20 Leute angemeldet haben. Fast alle, die hier arbeiten, sind schon sehr lange im Haus. Die Atmosphäre ist familiär und hilfsbereit; regelmäßig bekommt das Bildungszentrum Lage-Hörste von den Nutzern Bestnoten, was Service und Küche angeht. Seit Ende Juni prangt am Eingang auch eine Urkunde vom Gütesiegelverbund Weiterbildung; als erste ver.di-Bildungsstätte erhielt sie diese Qualitätsauszeichnung überreicht.
Viel gelernt in schöner Umgebung
Abends, am liebsten nach dem Essen, treffen sich die meisten Gäste auf der Terrasse oder in der hauseigenen Kneipe. Wer Lust hat, kann aber auch eine Spritztour mit dem Fahrrad unternehmen, eine Runde schwimmen oder in der Sauna schwitzen. Und wem ein stiller Spaziergang besser gefällt, der entschwindet einfach direkt neben dem Haus in den Wald.
Thorsten Grüttgen zieht am Tag seiner Abreise für sich eine positive Bilanz: "Ich weiß jetzt, wo ich nachgucken kann, wenn ich ein Problem im Betrieb hab", sagt er. Auch Stefanie Fendler ist hochzufrieden: "Viel gelernt in schöner Umgebung." Aber natürlich habe sich nun auch ein ganzer Haufen neuer Fragen ergeben. Nicht zuletzt deswegen hat sie am Vortag einen ver.di-Aufnahmeantrag unterschrieben.
Fürs Leben lernen
ver.di hat zehn Bildungszentren, die alle am Leitmotto ausgerichtet sind: "Das große Ziel der Bildung ist nicht Wissen, sondern Handeln."
Das Themenspektrum reicht von Gesprächsführungstraining über die Zusammenhänge von Fußball und Gesellschaft bis hin zu Spezialproblemen des Arbeitsrechts. Eine gerade abgeschlossene Studie belegt, dass die Zufriedenheit der Gäste mit den ver.di-eigenen Tagungsorten in den vergangenen Jahren immer weiter gewachsen ist. Service, Verpflegung und Seminarräume werden von 90 Prozent der Besucher als "gut" oder sogar "sehr gut" bewertet.
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