Sie sprechen die Sprache der Küstenbewohner und sind geradeheraus. Wie vier ver.dianer/innen sich jeder steifen Brise entgegenstellen und Gewerkschaft von unten machen. Ein Besuch im Bezirk Westküste

Mit der Lore Auf dem Deich: Die Wasserbauer Jürgen Bahnsen und Claus Winkel, in der Mitte ver.di-Sekretär Wilfried Lunow

Gewerkschaftern ist ja nichts Menschliches fremd. Geht es um Arbeitnehmerinteressen, schleppen sie Transparente, schmettern Protestparolen, tragen Warnwesten und denken sich immer neue Aktionen aus, um die Mitglieder vom Sofa auf die Straße zu bewegen. Fotografieren aber lassen sich allenfalls die Landesleiter gern. Der Rest lässt die Prozedur des Aufstellens und kollektiven Lächelns für die Kamera meist nur maulend über sich ergehen. Man möchte sich nicht in den Vordergrund spielen, hier geht's um die Sache und nicht um Personalien und überhaupt - zeigt lieber unsere Ehrenamtlichen, die haben's verdient! Da macht auch die Crew vom Bezirk Westküste keine Ausnahme. Fototermin am Husumer Hafen. Hier lässt sich sinnlich erfahren, was eine "steife Brise" bedeutet. Nicht eine Frisur sitzt, Outdoorjacken blähen sich im Wind, und was der Fotograf an der ollen Brücke findet, ist den Kolleginnen und Kollegen völlig schleierhaft. Trotzdem, nach einer kurzen Animationsphase wird die ver.di-Fahne fröhlich geschwenkt, und auch Bezirksgeschäftsführer Jürgen Reimer, ein echter Nordfriese, pellt sich aus seiner Vermummung.

Zum Bezirk Westküste gehört die Region um Husum. Im Norden reicht das Einzugsgebiet bis zur dänischen Grenze, im Süden bis Brunsbüttel. Und nicht zu vergessen: die nordfriesischen Inseln Sylt, Föhr, Amrum, Pellworm, Nordstrand samt der Halligen, die wie Haarbüschel aus der Nordsee lugen. Drei Männer und drei Frauen betreuen 9 000 Mitglieder sowohl auf dem platten Land als auch an der Küste. Das bringt, neben den üblichen Tätigkeitsfeldern der Gewerkschaft, eben auch die Besonderheiten der Region mit sich. Und mit denen kennt man sich besser aus, sonst hockt man schnell im Watt. Es fängt damit an zu wissen, dass die Schafe hier nicht aus Jux und Dollerei auf den Deichen grasen, und hört beim Beherrschen des Plattdeutschen noch lange nicht auf.

Ganzheitliche Kompetenz

Zur ersten Orientierung für Mitglieder hat der Bezirk auf seiner Webseite den vier Gewerkschaftssekretären bestimmte Fachbereiche zugeordnet, für die sie als Ansprechpartner gelten. Demzufolge kümmert sich Jürgen Reimer um Ver- und Entsorgung und Verkehr, aber auch um die Medien. Seine Frau und stellvertretende Bezirksgeschäftsführerin Ursula Rummel betreut Gesundheit, soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen sowie Ver- und Entsorgung. Edgar Thomzik und Wilfried Lunow kümmern sich um Bildung, Wissenschaft und Forschung, Bund, Länder und Gemeinden, letzterer hat auch noch den Handel am Hals. Doch dem Alltag hält dieses grobe Gerüst nicht stand: "Wir machen alles, was durch die Tür kommt. Bei vier Sekretären in einem so großen Bezirk muss jeder professionell sein und quer arbeiten", sagt Geschäftsführer Reimer. Und: "Das ist ein ständiges learning by doing. Kommt einer mit einem neuen Problem, heißt es lesen, telefonieren, recherchieren - und dann beraten. Setzt aber voraus, dass ich in die Betriebe gehe und nicht nur am Schreibtisch hocke." Auch das Vermitteln von Beschlüssen der ver.di-Bundesverwaltung, die in der Region umgesetzt werden sollen, stellt oft eine Herausforderung dar. Nicht immer decken sie sich mit dem, was die Basis für wichtig erachtet. Das bedeutet Stellung beziehen, Reibung aushalten und manches Missvergnügen abfedern.

Auf der Fähre Rungholt (von links nach rechts): Kapitän und Seelotse Jan-Eck Hellmann, Jürgen Reimer (rechts) im Gespräch mit einem Neumitglied, Maschinist Jürgen Gallas

So sammelt sich über die Jahre eine Art ganzheitlicher Kompetenz an. "Wir sind übrigens auch einige der wenigen Hauptamtlichen, die noch mit Seefahrt zu tun haben", erzählt Reimer, dessen Bezirk inzwischen bundesweit den größten Anteil an Seeleuten aufweist. Rund 95 Prozent von ihnen sind organisiert, Jürgen Reimer kennt jeden Einzelnen mit Namen.

Die Beratung

Montagmorgen, 8.30 Uhr. Das weiß getünchte ver.di-Gebäude in Husum setzt sich ab vom Rest der typischen Backsteinbebauung. Schon im Erdgeschoss hört man Reimer laut rufen. "Er hat sich seit Erfindung des Telefons nicht daran gewöhnt, dass Entfernung keine Rolle spielt", sagt Ursula Rummel und grinst. "Mit Berlin redet er immer besonders laut." Die beiden sind ein eingespieltes Team. Er, der Rechenkünstler, den jeder kennt. Sie, die soziale Komponente, die vor klaren Ansagen und deutlichen Auseinandersetzungen nicht zurückweicht.

An diesem Vormittag steht im Bezirksbüro die Beratung eines Matrosen an. Jürgen Reimer überragt den ansehnlichen, älteren Mann um einiges, sie klopfen sich zur Begrüßung auf die Schulter. Dann geht's ans Eingemachte: Der Matrose arbeitet auf einer Fähre, die einst ihr Glück mit Butterfahrten machte, nun aber unter zypriotischer Flagge und schlechteren Arbeitsbedingungen weiterfahren soll. Soll er den neuen Vertrag, der mehr Arbeit und weniger Geld bringt, unterschreiben? Reimer blättert, springt auf und holt den Taschenrechner. Er tippt und rechnet, während er spricht: "Die Frage ist, willst du dir das antun? Du bist derjenige, der es noch gut hat, weil die Seemannskasse dir den Rentenabschlag ausgleicht, wenn du jetzt aufhörst." Der Matrose ist unsicher, er ist knapp über 60, üppig wird seine Rente nicht ausfallen, und er muss seine Frau mitversorgen. Am Ende rennt Reimer zum Telefon und spricht selbst mit dem Arbeitgeber. Der will nun eine strittige Formulierung in der Ausstiegsregelung überdenken: "Jetzt sind wir auf dem Punkt!", triumphiert Reimer. Der Matrose ist erleichtert. Die Entscheidung muss er treffen, aber sie fällt ihm jetzt leichter.

An Bord

Mittags: Der ver.di-Bezirksgeschäftsführer muss unbedingt noch auf der Fähre Rungholt vorbeischauen. Man fährt rund 45 Minuten bis Dagebüll; hohe Fahrtkosten sind der Preis für die Mitgliedernähe. Auf der Autofähre soll es einen neuen Decksmann geben, der noch kein Mitglied ist, außerdem soll der Kapitän und Lotse Jan-Eck Hellmann einen Blick auf die tückische Formulierung im Falle des Matrosen werfen. Der Gewerkschafter mit dem Pferdeschwanz und der ruhige Seemann kennen sich seit 15 Jahren. Hellmann ist sogenannter Küstenfahrer, "seine" Fähre fährt die Inseln Föhr und Amrum von Dagebüll aus an.

Hellmann war lange in der Bundesfachgruppe Schifffahrt und der Tarifkommission, er ist im Bezirksvorstand Vertreter für den Fachbereich Verkehr und er hat mit Reimer und der Internationalen Transportarbeiter Föderation ITF zusammen Schiffe kontrolliert. Beide sind stolz auf den errungenen Haustarifvertrag. "Jürgen hat als einer der wenigen geblickt, dass Gewerkschaftsarbeit direkt in den Betrieben stattfindet. Er strahlt in Verhandlungen eine besondere Stärke aus und schafft Vertrauen bei den Mitgliedern", sagt der Kapitän. Ihm graut schon vor der Zeit ohne den Allrounder, und er wünscht sich eine entsprechend praxisnahe Ausbildung neuer Gewerkschaftssekretäre. Auch später müsse jemand den großen Themen der Seefahrt hier vor Ort gewachsen sein: den Billigflaggen, der Globalisierung, der Zeitarbeit durch "Crewing Agenturen" und nicht zuletzt der Überalterung der Mitglieder. Im Berliner Bundesfachgruppenvorstand sitze zwar die geballte Sachkompetenz, aber man komme nicht an der Tatsache vorbei, dass "es hier kein Schwein interessiert, was da oben angezettelt wird".

Besonders interessant wird es, wenn einer wie Marc Zetzsche neu an Bord kommt. Der 24-jährige Decksmann mit nautischem Patent steuert heute die Autofähre Rungholt nach Föhr. Nicht ganz einfach, der Wind kommt seit Tagen aus Ost und drückt das Wasser weg, der Stand darf 1,50 Meter nicht unterschreiten. Er sitzt lässig, aber konzentriert auf der Brücke, wo die Anwesenheit von Frauen immer noch Unglück verheißen soll. Freundlicherweise reden alle hochdeutsch für die Reporterin aus Berlin, und es gibt Kaffee und Kuchen. Ja, er habe das Mitgliedsformular von ver.di schon in der Tasche, sagt Marc und lächelt. Er ahne schon, dass er aus der Nummer hier gar nicht rauskommt und bald unterschreiben wird. Trotzdem will er sich vorher noch gründlich über das Für und Wider einer Mitgliedschaft informieren. Er ist der einzige an Bord, der noch ohne unterwegs ist.

Ungemach durch Frauen hin oder her, der Maschinist Jürgen Gallas, Mitglied in der Haustarifkommission, kommt auf die Brücke und will bereitwillig das Allerheiligste zeigen, seinen Maschinenraum. Er ist ein echter Seebär, mit einem klassischen Tattoo auf dem Unterarm, für das ihn seine Mutter einst noch ordentlich ausgeschimpft hat. Beim Abstieg ist deutlich zu hören, wie die Unterhaltung auf der Brücke in einer unverständlichen Sprache fortgesetzt wird: auf Plattdeutsch.

Am Ende des Tages sind Husum und Umgebung wie leergefegt. Alle haben sich zum traditionellen "Biikenbrennen" am Wasser getroffen. Der hoch aufgeschichtete Knickholz-Haufen wird von den Kindern mit Fackeln entzündet, um den Winter zu vertreiben. Es gibt Glühwein und viel Schulterklopfen. Jürgen und seine unerschrockene Ursula grüßen immer wieder nach links und rechts.

Auf dem Deich

Am nächsten Morgen gehört Jürgen Reimer zu den beiden Sekretären, die "möglichst immer dableiben" im Büro in Husum. Muss er doch zwischendurch los, leitet er seine Anrufe aufs Handy um. Stattdessen muss heute Wilfried Lunow raus zu den Wasserbauern. Sie warten, bauen und reparieren die Deiche, die das Wasser in Schach halten, die Landgewinnung sichern und die Bewohner vor möglichen Fluten schützen. Wichtige Arbeit also. Aber ein Knochenjob. Es sind große, stämmige Männer, die bei Wind und Wetter draußen sind und harte Bauarbeiten mit viel Sachverstand verrichten. Schließlich gehört das Wattenmeer auch zum Weltkulturerbe. Noch dazu müssen sie die Schafe im Blick halten, die ihnen bei der Arbeit helfen: Sie treten schön den Deichboden fest, machen ihn wasserdicht und knabbern das Gras kurz.

Die Mitarbeiter der Geschäftsstelle Husum (vlnr.): Jürgen Reimer, Ursula Rummel, Wilfried Lunow, Petra Koerting, Edgar Thomzik und Ingrid Tetens

Lunow hat die schwierige Aufgabe, die Wasserbauer aus dem öffentlichen Dienst auf einen Warnstreik einzustimmen, ohne es zu übertreiben. Sie haben nicht vergessen, dass ihnen 2009 nach einem Streik nur die guten Ergebnisse aus Berlin verkündet wurden. Die negativen wurden vom Winde verweht, was bei den Männern der Tat nicht gut ankam. "Gut, wir Wasserbauer sind eine absolute Minderheit. Trotzdem sind wir zu hundert Prozent organisiert. Die im Warmen nicht so", lächelt Claus Winkel. Er ist Kolonnenvorarbeiter und kümmert sich auch um die Lorenbahn, mit der Baumaterialien auf die Hallig oder an den Streckenbau gebracht werden.

Trotz des Ärgers stehen auch hier alle zu ihren Sekretären Wilfrid und Jürgen. "Die sprechen unsere Sprache und sind geradeheraus", sagt Winkel. Denn auch hier sind die Probleme groß. Stellenabbau im öffentlichen Dienst, betroffen ist auch das LKN in Husum, der Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein. In der Folge drohen Privatisierung und Niedriglohn, und zu wenige Auszubildende aus der Gegend bekommen hier eine Chance. Gleichzeitig kämpfen die Treckerfahrer, die tagein tagaus den Deich abfahren und das sogenannte Treibsel, das Angeschwemmte sortieren und entsorgen, um ihr Recht. Auch ihre Arbeit hat einen fairen Preis. Grund genug für alle, sich die von Wilfried mitgebrachten Fahnen, Warnwesten und Transparente zu greifen, da gibt es nichts.

Abends im Husumer Büro hat Jürgen Reimer sichtlich gute Laune. Er wedelt mit einem Zettel. "Erinnerst du dich an Marc Zetzsche, den jungen Decksmann auf der Rungholt? Ich habe hier seinen Antrag auf Mitgliedschaft. Er ist gerade online eingetreten!"