Der Zusammenschluss von fünf Einzelgewerkschaften vor 10 Jahren hat die Gewerkschaft gestärkt. Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske im Gespräch

ver.di PUBLIK | 10 Jahre ver.di, seit 10 Jahren, Frank, bist du Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, war das bis jetzt ein Sprint oder ein Marathon?

FRANK BSIRSKE | Es war ein 10000-Meter-Lauf mit Zwischensprints, weil natürlich immer wieder in unterschiedlichsten Branchen auch besondere Herausforderungen bewältigt werden mussten, die mit bestimmten Etappen der Entwicklung der Organisation verbunden gewesen sind.

ver.di PUBLIK | Was lief in den letzten 10 Jahren nicht so gut?

BSIRSKE | Ich hätte mir eine bessere Mitgliederentwicklung gewünscht.

ver.di PUBLIK | Und was wird in den nächsten 10 Jahren besser?

BSIRSKE | Die Mitgliederentwicklung. Darauf setze ich ganz stark.

ver.di PUBLIK | Warum ist es in Zeiten wie diesen, in denen Vollzeitstellen immer weniger werden, aber Teilzeitstellen, Leiharbeit und andere prekäre Beschäftigungsverhältnisse zunehmen, so schwierig, Menschen für ihre eigene Interessenvertretung zu gewinnen?

BSIRSKE | Als wir mit ver.di starteten, lautete das Motto unseres Gründungskongresses "Mehr bewegen" und "Wegen Umbau geöffnet". Wenn man heute zurückblickt, sind rund 1,1 Millionen Menschen dieser Einladung gefolgt und neu Mitglied in ver.di geworden. Über die Hälfte unserer Mitglieder ist also nach der Gründung eingetreten. Die Organisation, die in den letzten 10 Jahren 1,1 Millionen neue Mitglieder hat gewinnen können, die muss man mir erst einmal zeigen in der Bundesrepublik. Das ist natürlich ein großer Erfolg, den man würdigen muss. Weil es alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist in einer Situation, wo in traditionell gut organisierten Branchen Unternehmen massiv Personal abgebaut haben. Nehmen wir nur mal die Energiewirtschaft, ein Drittel der Arbeitsplätze samt Personal ist seit Mitte der Neunziger abgebaut worden. Nehmen wir die Druckindustrie, wo in den letzten Jahren jedes Jahr fünf, sechs, sieben Prozent der Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Nehmen wir Post oder Telekom, die jeweils weit über 100000 Arbeitsplätze abgebaut haben. Das geht nicht spurlos an der Gewerkschaft vorbei, die diese Branchen organisiert. Dass in weiten Teilen des Öffentlichen Dienstes ebenfalls hunderttausende von Arbeitsplätzen abgebaut worden sind und es in vielen Bereichen keine Neueinstellungen mehr gegeben hat, keine Übernahme von Auszubildenden - das alles sind Bedingungen, die es einer Gewerkschaft schwerer machen, neue Mitglieder zu gewinnen. Hinzu kommt, dass wir es mittlerweile in Teilen der von uns organisierten Branchen mit einer Amerikanisierung der Arbeitsbeziehungen zu tun haben, wo massiver Druck auf jede Art der Selbstorganisation von Beschäftigten ausgeübt wird. Da gilt es gegenzuhalten. Und das tun wir. Denn: Das Schicksal der Gewerkschaften entscheidet sich in den Betrieben.

ver.di PUBLIK | Und wie lässt sich die betriebliche Präsenz der Gewerkschaften verstärken?

BSIRSKE | Das Schlüsselthema ist gute Arbeit. Die Auseinandersetzung um die Arbeitsbedingungen in ihren vielfältigen Facetten ist eine zentrale Brücke für die Verankerung der Organisation in den Betrieben. Das Thema wird angepackt, ob wir nun über den Bankenbereich sprechen, wo das Thema "fair beraten" stark akzentuiert wird, und zwar zu Recht, weil dort der Verkaufsdruck zu den zentralen Problemen der Beschäftigten gehört. Oder ob es um die Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern geht, die Arbeitsbelastung für die Beschäftigten bei der Post AG oder um das Thema Gesundheitsförderung in den sozialen Berufen: Überall sind wir dabei, die Arbeitsbedingungen gezielt in den Blick zu nehmen und zu bearbeiten. Wir werden aber auch darum ringen müssen, dass Betriebsräte, Personalräte und Mitarbeitervertretungen die Organisierung von Beschäftigten, auch der Auszubildenden, noch stärker zu ihrer eigenen Angelegenheit machen.

ver.di PUBLIK | Warum sind die einen dabei erfolgreich, andere weniger?

BSIRSKE | Ein Beispiel: Nach einem Bezirksbesuch habe ich Kolleg/innen aus Südthüringen zu einer Präsentation eingeladen, weil die sehr gut in der Mitgliedergewinnung im Bereich der Krankenhäuser waren. Bedingungsgebundene Tarifarbeit war natürlich ein Stichpunkt, also: Solange hier nicht mindestens 40 bis 70 Prozent organisiert sind, brauchen wir gar nicht zu verhandeln. Da hat sich dann eine hauptamtliche Kollegin hingestellt und gesagt: "Als ich den Bereich übernommen und angeguckt habe, da habe ich mir gesagt, du musst über deine Arbeit nachdenken." Das klingt total banal, ist aber revolutionär, weil sie sich gefragt hat: Wie und was kann ich bewirken? Wo muss ich ansetzen. Mit wem muss ich da wie ran? Wunderbar! Darum geht es, wenn das Standard wäre, ich wäre begeistert.

ver.di PUBLIK | Du wirst dich im Herbst auf dem Bundeskongress wieder zur Wahl stellen, zum dritten Mal. Ganz ehrlich, kein bisschen amtsmüde?

BSIRSKE | Nein, kein bisschen. Ich mache das, was ich mache, gern und leidenschaftlich. Ich bin Gewerkschafter mit Leib und Seele und aus tiefer Überzeugung. Und ich treffe viele, viele Menschen, die das auch sind. Das motiviert ganz stark. Und zu tun gibt es ja auch noch jede Menge.

ver.di PUBLIK | ver.di muss im Moment in Tarifauseinandersetzungen oft gegen Mauern anrennen, im Öffentlichen Dienst gab's zunächst kein konstruktives Angebot, ähnlich bei der Telekom, und die Zeitungsverleger wollen gar nicht erst über höhere, sondern über eine Absenkung der Gehälter verhandeln. Das Tarifgeschäft war schon mal leichter, oder?

BSIRSKE | Ja, das Tarifgeschäft war schon mal leichter. Aber wenn man auf die letzten 10 Jahre zurückblickt, haben wir es eigentlich nie einfach gehabt. Ich denke an die 16 Wochen Streik im Länderbereich 2006, ich denke an die Tarifbewegung im Einzelhandel 2007 mit einer Mobilisierung und einer Streikintensität, wie es sie in dieser Branche noch nie gegeben hatte. Ich denke an ausgesprochen schwierige Auseinandersetzungen in der Druck- und in der papierverarbeitenden Industrie, um nur einige Beispiele zu nennen. Wobei der Angriff, den die Verleger auf die Journalisten führen und der auf eine regelrechte Entwertung des Berufs zielt, aktuell eine besondere Herausforderung darstellt und wahrscheinlich auch nur über eine starke Mobilisierung der Redakteure und Journalisten zu bewältigen sein wird. Am besten zusammen mit den Druckern und Verlagsangestellten, weil die ihrerseits ja auch einem massiven Angriff der Arbeitgeber ausgesetzt sind mit dem Ziel der Verschlechterung von Arbeitsbedingungen. Insofern wird die Entscheidung für eine gemeinsame Organisation von Journalisten, Druckern und Verlagsangestellten in dieser Auseinandersetzung erneut eine nachhaltige Bestätigung seiner Richtigkeit erfahren.

ver.di PUBLIK | Bei welchen Konflikten in den letzten 10 Jahren hast du genau gewusst: Es war richtig, die fünf Gewerkschaften zu einer zusammenzuschließen?

BSIRSKE | Nun, nehmen wir den Tarifkonflikt im Länderbereich, der ja der längste Streik gewesen ist, den es im Öffentlichen Dienst in der Geschichte der Bundesrepublik, aber auch in der Deutschen Geschichte insgesamt je gegeben hat. Oder die Auseinandersetzungen im Einzelhandel in den letzten Jahren: Es wäre unendlich schwieriger gewesen, diese Auseinandersetzungen durchzustehen, wenn wir es noch mit den konkurrierenden Organisationen HBV, ÖTV und DAG zu tun gehabt hätten. Die Gründung von ver.di hat die finanzielle Handlungsfähigkeit der Gewerkschaft nachhaltig gestärkt, hat eine Bündelung von Kräften in Auseinandersetzungen ermöglicht und hat uns politisch wirksamer werden lassen, als jede einzelne Organisation es in früherer Zeit für sich gewesen ist. Und generell: Es wäre bis heute nicht gelungen, den gesellschaftlichen Blick auf das Problem der Armutslöhne zu lenken und ein breites gesellschaftliches Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es auch in der Bundesrepublik eines gesetzlichen Mindestlohns auf dem Niveau unserer westeuropäischen Nachbarländer bedarf.

ver.di PUBLIK | In anderen Regionen der Welt tragen gerade sehr viele Arbeiter/innen und Gewerkschafter/innen zum Sturz ganzer Regime bei. Was bedeuten diese schweren Konflikte eigentlich für den globalen Arbeitsmarkt und auch für ver.dis internationale Arbeit?

BSIRSKE | Das heißt ja zunächst mal, dass die Menschen Demokratie wollen und ihre Angelegenheiten selbst regeln, Einfluss nehmen wollen auf den Gang der Geschicke. Das ist eine absolut positive Entwicklung, für die es hier in der Bundesrepublik durchaus auch Parallelen gibt. Wenn man sich Stuttgart 21 anguckt, wo die Menschen die Dinge, die sie unmittelbar betreffen, nicht einfach nur passiv hinnehmen, sondern aktiv mitgestalten wollen. Und das ist für uns als Gewerkschafter ein tragender Gedanke, sich einzumischen in die Regelung der eigenen Verhältnisse, der Arbeits- und Lebensbedingungen.

ver.di PUBLIK | Anders gefragt, brauchen wir eine vereinte Weltgewerkschaft?

BSIRSKE | Unsere Internationale der Dienstleistungsbranchen, die UNI, versteht sich ja bereits als globale Gewerkschaft, die insbesondere in den großen, multinationalen Konzernen Standards durchzusetzen versucht, die die Unternehmen nicht nur in Europa binden, sondern weltweit. Und das ist ja auch nur konsequent. In vielen Branchen begegnen uns überall in der Welt Großkonzerne, egal ob in Asien, Amerika, Afrika oder Europa. Im Einzelhandel sind es zum Beispiel Metro, Tesco, Carrefour und Walmart, in der Logistikbranche DHL und UPS, Securitas im Sicherheitsgewerbe. Wenn es uns gelingt, bei diesen Konzernen Abkommen durchzusetzen, die konzernweit gelten, etwa Gewerkschaftsrechte und Mindeststandards, verbessert das in wichtigen Branchen die Bedingungen gewerkschaftlichen Handelns nachhaltig. Und das weltweit. Das ist das Konzept von UNI mit zwischenzeitlich über 50 Strukturabkommen mit Großkonzernen. Und dieses strategische Konzept unterstützt ver.di nach Kräften.

ver.di PUBLIK | Letzte Frage: Wenn ver.di ein Tier wäre, welches wäre es für dich?

BSIRSKE | (nach langem Überlegen) Ein Indischer Elefant.

ver.di PUBLIK | Warum?

BSIRSKE | Er ist wehrhaft und intelligent, ein Arbeitstier, neigt nicht zu ungezügelter Aggressivität, ist aber in der Lage sich zur Wehr und durchzusetzen. Er ist ein Herdentier, das die Nähe zu seinesgleichen sucht und sich im Verbund durch ein ausgeprägtes Sozialverhalten auszeichnet.

Interview: Jenny Mansch und Petra Welzel