Jürgen Wasem, Professor für Medizin-Management an der Uni Duisburg-Essen, ist der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs

ver.di PUBLIK | Die Einführung des Gesundheitsfonds im Jahr 2009 und die Einführung einer Kopfpauschale ab 2011 haben die Konkurrenz zwischen den Kassen erheblich verschärft. Bleibt die Insolvenz der City BKK damit kein Einzelfall?

JÜRGEN WASERN | In der Zwischenzeit haben das Bundesversicherungsamt und der Krankenkassenverband publik gemacht, dass es eine Reihe weiterer Krankenkassen mit finanziellen Schwierigkeiten gibt. Nach dem vielen Ärger, den es mit der Insolvenz der City BKK gegeben hat, glaube ich allerdings, dass für die meisten dieser Krankenkassen Fusionen als Ausweg gefunden werden.

ver.di PUBLIK | Sind diese Schieflagen eine Folge des Wettbewerbs oder ein Fehler im System?

WASERN | Wir hatten bereits vor Einführung des Gesundheitsfonds große Beitragssatzunterschiede. Ende 2008 schwankten die Beitragssätze zwischen 13 und 16 Prozent. Heute ist der Preisdruck höher. Die Kassen, die den Zusatzbeitrag eingeführt haben, haben danach bis zu 30 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Deswegen zögern Kassen, die eigentlich einen Zusatzbeitrag einführen müssten, ihn zu erheben.

ver.di PUBLIK | Der Zusatzbeitrag hat eine verheerendere Wirkung als die Beitragsunterschiede, die es früher gegeben hat?

WASERN | In jedem Fall. Früher haben Kassen ihren Beitragssatz kräftig raufgesetzt und dann drei, vier, fünf Prozent ihrer Mitglieder verloren. Heute führen Kassen einen vergleichsweise geringen Zusatzbeitrag von acht Euro ein - und ihnen laufen 20 Prozent der Mitglieder weg.

ver.di PUBLIK | Die Chefin des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen, Doris Pfeiffer, spricht von einem Zusatzbeitrag für die gesetzlich Versicherten in Höhe von 50 bis 70 Euro pro Monat in den nächsten Jahren. Sind Sie auch dieser Meinung?

WASERN | Ende vergangenen Jahres hat die schwarz-gelbe Koalition entschieden, dass sie den Beitragssatz konstant bei 15,5 Prozent halten will. Die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds an die Kassen können damit nur so wachsen wie die Löhne, Gehälter und Renten der Versicherten. In den vergangenen 20 Jahren sind die Ausgaben der Kassen aber stärker gewachsen, und ich sehe nicht, dass sich das ändern wird. Wir hatten in den 1970er Jahren einen Beitragssatz von rund acht Prozent, heute haben wir 15,5 Prozent. Ohne Beitragssteigerungen muss diese Differenz über Zusatzbeiträge abgedeckt werden. Nach meiner Prognose wird der monatliche Zusatzbeitrag ungefähr um sieben Euro pro Jahr steigen.

ver.di PUBLIK | Sie gehen davon aus, dass über kurz oder lang alle Krankenkassen einen Zusatzbeitrag erheben müssen?

WASERN | Ja. Im Moment ist die Formel für die Ausschüttung aus dem Gesundheitsfonds so berechnet, dass die durchschnittliche Kasse mit dem Geld auskommt. Es ist absehbar, dass irgendwann auch die letzte Kasse ihre noch vorhandenen Rücklagen verbraten hat und dann in den Zusatzbeitrag geht. Es ist das gewünschte Ziel der Regierungskoalition, den Zusatzbeitrag zur mittelfristig vorherrschenden Finanzierungsform zu machen.

ver.di PUBLIK | Welche Versicherten sind für Kassen denn besonders attraktiv?

WASERN | Neben den Gesunden sind das diejenigen, die in Regionen wohnen, die kostengünstig versorgt werden können. Die City BKK hatte ihren Schwerpunkt eindeutig bei den Versicherten in Berlin und Hamburg. Dort ist die Versorgung teurer als im restlichen Bundesgebiet. In ländlichen Regionen werden die gleichen Krankheiten günstiger versorgt. Wegen der Entfernungen geht man dort seltener zum Arzt und die Ärzte verschreiben weniger Zusatzuntersuchungen.

ver.di PUBLIK | Wie müsste ein System aussehen, das solche Verwerfungen auffängt?

WASERN | Wir brauchen eine politische Diskussion darüber, ob wir bei der Verteilung des Geldes die Regionen berücksichtigen wollen. Mit dem Geld für einen Diabetiker in Hamburg komme ich als Kasse derzeit nicht aus, mit dem in der Eifel mache ich einen Gewinn. Bisher wollte man den Kassen in den Regionen mit Überversorgung einen Anreiz geben, die hohen Kosten zu reduzieren.

ver.di PUBLIK | Sollte man ihrer Meinung nach beim Gesundheitsfonds mit seinen Zusatzbeiträgen, die die Arbeitnehmer/innen alleine bezahlen, bleiben?

WASERN | Ich persönlich halte das für einen gangbaren Weg. Allerdings sollte man Geduld haben bis zu dem Zeitpunkt, an dem alle Kassen einen Zusatzbeitrag brauchen. Dann können auch Service und Qualität wieder eine Rolle spielen. Kassen können im Moment nicht über Programme mit einer besseren Versorgung oder ähnliches punkten. Der Zusatzbeitrag überlagert alles. Ich kann mir aber auch vorstellen, zum alten Modell zurückzukehren. Dann müsste man aber dessen Schwächen beheben. Wichtig ist, wenn wir beim Zusatzbeitrag bleiben, dass der Sozialausgleich funktioniert. Sonst werden einkommensschwache Versicherte über Gebühr belastet. Interview: Heike Langenberg

ver.di-Position

Rund 20 Krankenkassen haben derzeit beim Bundesversicherungsamt auf eine mögliche Insolvenz hingewiesen. Das bedeutet aber nicht, dass dieser Fall auch bei allen Kassen eintritt. Um Kassenschließungen zu vermeiden, setzt ver.di sich dafür ein, dass die Politik zu einer paritätischen Finanzierung zurückkehrt. Das bedeutet, dass sich Arbeitnehmer/innen und Arbeitgeber die Beiträge teilen. Derzeit ist der Beitrag auf 15,5 Prozent gedeckelt, zukünftige Kostensteigerungen müssen die Versicherten alleine tragen.

Die Höhe dieser Kopfpauschale bleibt den Kassen überlassen. Ein durchschnittlicher Zusatzbeitrag wird von der Politik festgesetzt. Er ist Maßstab für den Sozialausgleich. ver.di kritisiert, dass die tatsächlichen Belastungen nicht ausgeglichen werden. Der Ausgleich existiere derzeit nur auf dem Papier, kritisiert Herbert Weisbrod-Frey, zuständiger Referent in der ver.di-Bundesverwaltung. Damit eine bedarfsgerechte Krankenbehandlung finanziert werden kann, spricht sich ver.di für eine Bürger/innenversicherung aus. Außerdem sei der krankheitsbezogene Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen weiterzuentwickeln. Gleichzeitig müsse die Politik dafür sorgen, dass im Falle einer Kassenschließung sowohl die Versicherten als auch die Beschäftigten ihre Rechte wahrnehmen können.