Sie entschuldigen sich für ihren Ministerpräsidenten. Proteste in Budapest

Von Silviu Mihai

Auf dem Blaha-Lujza-Platz, einem der zentralen Verkehrsknotenpunkte in Budapest, stehen am Samstagnachmittag Dutzende Bedürftige Schlange. Sie warten auf eine warme Mahlzeit, die ihnen Hilfsorganisationen regelmäßig anbieten. Eine Frau füllt Bohnensuppe in Plastikschüsseln und verteilt sie, zusammen mit einer dicken Scheibe Brot. Nur wenige Meter von der Suppenausgabe entfernt versammeln sich auf dem Platz am selben Nachmittag rund tausend Anhänger/innen der neuen Bewegung Szolidaritás. Junge Aktivisten, die von ihren Mobiltelefonen aus auf Facebook zur Demonstration aufrufen, reden mit 50-jährigen Arbeitnehmern, die sich lebhaft an die Zeit vor 1989 erinnern.

"Genossen, das ist das Ende!" heißt es auf Transparenten, die die Vertreter der rechtskonservativen Fidesz-Regierung mit den alten staatssozialistischen Parteikadern vergleichen. "Ministerpräsident Orbán und seine Leute bezichtigen jede oppositionelle Stimme als kommunistisch. Dabei sind sie es selbst, die den ungarischen Rechtsstaat Stück für Stück abbauen", sagt Sándor Székely empört. Er ist einer der Szolidaritás-Vorsitzenden.

Kündigungsschutz fast ganz außer Kraft

Mit mehr als zehn Prozent Arbeitslosigkeit und einer immer weiter abgewerteten Währung dümpelt die ungarische Volkswirtschaft nur noch vor sich hin. Seit dem Wahlsieg von Viktor Orbáns rechtspopulistischer Partei Fidesz vergeht kaum eine Woche, ohne dass die Regierung wieder etwas tut, um die Grund- und Sozialrechte weiter abzubauen. Auf die umstrittenen Mediengesetze folgte eine neue Verfassung, die die Macht des Ministerpräsidenten verstärkt und seine Entscheidungen praktisch unumkehrbar macht. Eine tiefgreifende sogenannte Reform des Arbeitsrechts setzt jetzt den Kündigungsschutz fast ganz außer Kraft, verkürzt das Arbeitslosengeld auf drei Monate und verpflichtet die Arbeitslosen zu gemeinnütziger Arbeit. Im Eilverfahren wurde das Gesetzespaket im Parlament durchgepeitscht - trotz der heftigen Proteste der Opposition.

Die Regierung will damit den Forderungen der Arbeitgeberorganisationen entgegenkommen. Die beschweren sich seit Jahren über das angeblich zu komplizierte Arbeitsrecht und zu viele Sozialleistungen. Ausländische Banken und Konzerne unterstützen den drastischen Abbau der Arbeitnehmerrechte ebenfalls. Zugleich sind die neuen Gesetze Teil der umfassenden Fidesz-Agenda, die eine Neujustierung sämtlicher Institutionen vorsieht.

Die neue Protestplattform Szolidaritás

"Die Reform macht die Ausübung des Streikrechts abhängig vom guten Willen der Unternehmer oder der Gerichte und schränkt dadurch unseren Spielraum enorm ein. Das neue Arbeitsgesetzbuch ist gewerkschaftsfeindlich", sagt Károly György, Leiter der Abteilung für Internationale Kooperation beim Landesgewerkschaftsverband MSZOSZ. "Die Regierung hat uns extrem spät zu sogenannten Konsultationen eingeladen - ein schlechter Witz, denn alles war schon so gut wie entschieden", kommentiert Ferencné Fabok, die stellvertretende Vorsitzende der Unabhängigen Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheitssektor (FESZ).

"Als wir im Spätsommer von den Plänen der Regierung erfuhren, konnten wir es kaum glauben", erinnert sich Péter Kónya von der Szolidaritás. Der Gewerkschafter vom Verband der Unabhängigen Gewerkschaften hat 15 Jahre lang die Interessen der Beschäftigten der ungarischen Armee, Polizei und Feuerwehr vertreten. Gegen Kürzungen im öffentlichen Sektor und Erhöhungen des Renteneintrittsalters ist sein Gewerkschaftsverband im vorigen Jahr mehrmals auf die Straße gegangen. Doch wie alle anderen Proteste blieben auch diese Demos ohne Erfolg. Daraufhin kamen Gewerkschafter/innen auf die Idee, eine Sammelbewegung zu gründen, die die Kräfte von Arbeitnehmerorganisationen aus den meisten Branchen und kleinen, aber sehr aktiven Bürgerinitiativen vereinen soll. Menschenrechtsaktivisten, Umweltschützer, Mitarbeiter der öffentlich-rechtlichen Medien, Rentner/innen, Feuerwehrleute und viele andere sind dabei.

"So ist die Protestplattform Szolidaritás entstanden. Bei der Namenswahl haben wir uns von der polnischen Solidarnosc inspirieren lassen: Genau wie unsere Kollegen dort verlangen wir nicht nur Sozialrechte, sondern protestieren gegen eine autoritäre Regierung", sagt Péter Kónya.

Nach der Demonstration gegen die neue Verfassung, bei der Anfang Januar mehr als 100.000 Menschen auf die Straße gegangen sind, plant die neue oppositionelle Bewegung für März landesweit Protestaktionen. Vor dem Parlament in Budapest werden wieder Zehntausende erwartet, die für eine "neue und gerechtere Republik" demonstrieren werden, sagt Péter Kónya.