Der Zug der Erinnerung am Berliner Ostbahnhof. Die Einfahrt in den Hauptbahnhof ließ die Bahn nicht zu

Wer nicht lange zögert, kann in Berlin und Brandenburg jetzt noch dafür sorgen, dass eine Initiative oder ein einzelner Mensch einen ganz besonderen Preis bekommt, das "Band für Mut und Verständigung", verliehen vom Bündnis der Vernunft gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit in Berlin. Geld hängt nicht dran, aber Anerkennung und Aufmerksamkeit. Im vorigen Jahr wurden Dirk Stegemann, Ursula Nikitenko und der Verein "Neuruppin bleibt bunt" geehrt.

Der Rastlose

Schon für seinen Mut hat Dirk Stegemann das "Band" verdient. Er bekommt fast täglich Drohungen von Rechts, sie kündigen ihm den Hanfstrick an oder wollen ihn an die Wand stellen und erschießen. Er stört Neonazis und Rechtspopulisten auf. Wo auch immer sie in den vergangenen Monaten in Berlin auftreten wollten, Stegemann traf mit Mitstreiter/innen, Lautsprechern und Protestplakaten zumindest gleichzeitig dort ein, wenn nicht früher.

Die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit erregte Dirk Stegemann, als er gegen den langen Widerstand der Deutschen Bahn AG mit durchsetzte, dass der Zug der Erinnerung auch in Berlin halten konnte. Der Zug, ein mobiles Mahnmal, das durch Deutschland rollte. Überall, wo er an Bahnhöfen stand, erinnerte er an die Deportation von Kindern in die Konzentrationslager der Nazis und informierte darüber - auch über den Anteil, den die Bahn an dem Verbrechen hatte. Die Ausstellung im Zug haben 2007 mehr als 50.000 Menschen besucht, am Berliner Ostbahnhof drängten sich die Interessierten. Das war auch Stegemanns Verdienst. Bei der Verleihung des "Bandes für Mut und Verständigung" wurde sein Einsatz gegen das Vergessen der Nazi-Verbrechen deshalb besonders hervorgehoben.

Er gehört auch zu den Initiatoren der Skulptur einer Kindergruppe, die in Berlin am Bahnhof Friedrichstraße steht. Die Plastik erinnert an jene jüdischen Kinder, deren Familien sich von ihnen trennen mussten und sie nach England schickten, um wenigstens die Kinder zu retten.

Dirk Stegemann ist 1967 in Neubrandenburg geboren, in einer Familie mit antifaschistischer Tradition. Gegen Rassismus hat er sich immer zur Wehr gesetzt. Heute warnt er besonders vor einer gesellschaftsfähigen "Light-Version der Nazi-Ideologie", wie sie in dem Buch von Thilo Sarrazin deutlich werde. Gemeinsam mit Gewerkschaften, Initiativen, Gruppen und Einzelpersonen hat Dirk Stegemann 2009 deshalb das Berliner Bündnis "Rechtspopulismus stoppen!" gegründet. Seitdem gab es kaum einen Auftritt der rechten Gruppierungen "Pro Deutschland" oder "Freiheit", gegen den das Bündnis nicht auf der Straße protestiert hätte. Der Vollzeitaktivist sagt, rassistische und sozial ausgrenzende Argumente und Rechtspopulismus finde man in den verschiedensten Zusammenhängen. "Nicht Kleinstparteien wie ‚Pro Deutschland' oder die ‚Freiheit' sind das Hauptproblem. Die Frage ist: Wohin lassen sich die etablierten Parteien, aber auch Teile der Medien treiben, und wer konstruiert Sündenböcke, um Ursachen sozialer Fehlentwicklungen zu verschleiern?" In seiner Dankesrede für den Preis sprach sich der rastlose Aktivist für alle aus, "die sich couragiert an vielen Orten des Landes gegen Geschichtsrevisionismus, Nazismus und Rassismus einmischen, ohne dass ihnen je ein Preis verliehen wird". Er nannte ausdrücklich die Antifa-Gruppen, die daran beteiligt waren, dass der Zug der Erinnerung schließlich doch in Berlin gehalten hat: "Gruppen, die von der Politik und medial gern kriminalisiert werden."

Die Vermittlerin

Mehr als 20 Jahre lang hat Ursula Nikitenko russischsprachige Zuwanderer im brandenburgischen Bernau und Umgebung bei Behördengängen und zu Arztterminen begleitet. Und für sie Crash-Kurse veranstaltet, damit sie sich in der neuen Umgebung leichter zurechtfinden.

Überdies hat sie immer versucht, in ihrer deutschen Umgebung Verständnis für die Einwanderer zu wecken. In der dafür eingesetzten Zeit hätte die freiberufliche Dolmetscherin vielleicht Karriere machen können. Stattdessen erhielt sie nun das "Band für Mut und Verständigung".

Als junge Frau hatte sie 1962 einen in der DDR stationierten russischen Offizier geheiratet und jahrelang mit ihm in verschiedenen Städten der Sowjetunion gelebt. 1988, nach ihrer Scheidung, kehrte sie mit drei Kindern in ihre Heimat zurück und zog nach Bernau. Wenig später kamen aus dem Land, das sie selbst gerade verlassen hatte, Spätaussiedler in den Landkreis Barnim, die meisten russischsprachig. Seit 1990 waren es 3000, dazu noch viele russische Juden, die in Bernau eine neue Gemeinde gebildet haben.

"Ich erinnere mich immer daran, wie herzlich ich als Fremde in Russland selbst an die Hand genommen wurde, welche Gastfreundschaft ich dort erfahren habe", sagt Ursula Nikitenko. Das wollte sie jetzt an die neuen Nachbarinnen und Nachbarn zurückgeben, weiß sie doch aus eigener Erfahrung, wie wichtig Hilfe in einem fremden Land ist, umso mehr, wenn es Sprachbarrieren gibt. Sie wurde aktiv - und musste manches Mal auch einen Mangel an Kultur ausgleichen, und zwar bei fremdenfeindlichen deutschen Beamten.

Als Mitglied des örtlichen "Netzwerks für Toleranz und Weltoffenheit" setzt Ursula Nikitenko sich für ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Einheimischen und Zugewanderten ein. Und das "Netzwerk" ist nur eine der Initiativen, in denen sie aktiv ist. Vor einigen Jahren blockierten 500 Bernauer/innen erfolgreich einen Platz, auf dem sich 100 Neonazis versammeln wollten. Seitdem ruft das "Netzwerk" jedes Jahr am 8. Mai und am 9. November zu Kundgebungen in der Stadt auf und besetzt so die öffentlichen Räume, bevor Rechtsradikale das tun können. Die Dolmetscherin Nikitenko verteilt dann ihre Übersetzungen der geplanten Reden auf Handzetteln, damit alle den Worten genau folgen können. Dass sie für diese Arbeit kein Geld nimmt, versteht sich für sie von selbst.

Die Aufgeweckten

Mit seinem Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und Neofaschismus, für Demokratie und Toleranz hat das Aktionsbündnis "Neuruppin bleibt bunt" die Stadt in Brandenburg in Bewegung gebracht. Am Anfang stand ein Schock: In der Kreisstadt meldete 2007 eine rechtsextreme Gruppierung eine Demonstration zum Weltfriedenstag am 1. September an. "Als das bekannt wurde, hatten wir nur noch eine reichliche Woche Zeit, uns dieser Provokation zu stellen", erzählt Martin Osinski, Psychologe am Kreiskrankenhaus und Sprecher des Aktionsbündnisses. Aus dem Stand stellten Menschen aller Altersgruppen, Mitglieder aller parlamentarischen Parteien, Parteilose, kirchlich Gebundene und Atheisten eine Gegendemonstration auf die Beine: Rund 60 Nazis sahen sich einer zivilgesellschaftlichen Protestkundgebung von etwa tausend Teilnehmer/innen gegenüber.

"Nach diesem Weckruf haben wir beschlossen, dass wir uns nie wieder so überraschen lassen wollen", sagt Osinski. Das Bündnis begann, an Gedenktagen und zu anderen Zeitpunkten den öffentlichen Raum aktiv zu besetzen und Veranstaltungen zu planen.

Auch Informationsveranstaltungen zur Situation der Asylbewerber/innen im Ort fanden statt. Die etwa 120 Menschen kommen aus Zentralafrika, dem Irak und Afghanistan. Mit seinem Einsatz für sie konnte das Aktionsbündnis einen großen Erfolg verbuchen: Asylbewerber/innen bekommen heute wieder Bargeld statt der Gutscheine für ihre Einkäufe im Landkreis.

Ein unerwarteter Nebeneffekt des Zusammenschlusses im Bündnis, sagt Osinski, sei die höhere Lebensqualität in der Stadt, verbessert durch das neue nachbarschaftliche Miteinander: "Jetzt grüßen sich viel mehr Leute als früher auf den Straßen, unterhalten sich miteinander in den Läden."

Am 9. Juli 2011 blockierte das Aktionsbündnis zum ersten Mal erfolgreich einen Aufmarsch von Neonazis. Die Rechtsradikalen kamen nicht durch, doch leider kamen sie am 24. September wieder. Diesmal kesselte die Polizei die Straße und das Umfeld ein und prüfte die Personalien aller Gegendemonstranten. Immer noch sind circa 380 Ermittlungsverfahren anhängig. Der Sprecher der Initiative kommentiert das so: "Wir sind mächtig verstimmt." Aber über das "Band für Mut und Verständnis" habe er sich doch gefreut: "Die Anerkennung für solche Arbeit muss man manchmal mit der Lupe suchen."

Ausgerechnet zum 1. Mai planen Neonazis einen Aufmarsch in Neuruppins Nachbarstadt Wittstock. Dort, meinen die Unterstützer/innen von "Neuruppin bleibt bunt", sei ihre Hilfe bestimmt gern gesehen.

Der Preis

Das "Bündnis der Vernunft gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit" besteht seit 20 Jahren. Der DGB Berlin-Brandenburg gründete es gemeinsam mit der Caritas, der Arbeiterwohlfahrt, der Jüdischen Gemeinde Berlin, dem Flüchtlingsrat, der Katholischen Kirche und anderen Organisationen, nachdem 1991 Neonazis in Hoyerswerda Ausländer angegriffen hatten.

Mit dem "Band für Mut und Verständigung" zeichnet das Bündnis seit 1994 Initiativen und Personen aus, die sich gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, für Toleranz und Demokratie verdient gemacht haben. "Der Preis hat kein bisschen an Aktualität verloren", sagt Ildikó Pallmann vom DGB Berlin-Brandenburg. "Wir sind immer wieder erstaunt, welch enormen Mut Menschen aufbringen, zum Beispiel Jugendliche in der Provinz, um Mitbürgerinnen und Mitbürger vor rassistischer Gewalt zu beschützen."

Vorschläge für die Preisträger/innen 2012 können bis 1. März eingereicht werden. E-Mail: Buendnis@Berlin-Brandenburg.DGB.de

www.respekt.dgb.de