Ausgabe 01/2012
Ein völlig falsches Signal
Geringfügige Beschäftigung | Minijobs boomen. Allerdings sind sie eine tickende Zeitbombe, denn sie bieten den Beschäftigten keine eigenständige Altersvorsorge
Dorothea Voss leitet das Referat Zukunft des Sozialstaats/ Sozialpolitik im Bereich Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung
ver.di PUBLIK | 30 Prozent beträgt die Abgabenquote für Arbeitgeber beim Minijob, bei einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt sie bei 21 Prozent. Warum sind Minijobs für Arbeitgeber dennoch so attraktiv?
Dorothea Voss | Obwohl die Abgaben für die Unternehmen faktisch höher sind, wird die geringfügige Beschäftigung für sie zum billigen Beschäftigungsverhältnis, weil in der Praxis unter Umgehung der gesetzlichen Vorgaben oftmals geringere Stundenlöhne gezahlt werden. Dadurch weitet sich die geringfügige Beschäftigung aus.
ver.di PUBLIK | Warum führt die Lohnungleichheit nicht zu einem Aufschrei?
Voss | Weil die niedrigen Stundenlöhne im Betrieb dadurch legitimiert werden, dass geringfügig Beschäftigte von dem Lohn, den sie erhalten, keine Steuern und Abgaben zahlen. Dadurch unterbleibt der riesengroße Aufschrei - auch bei den Betroffenen. Die ungleichen Löhne teilen den Arbeitsmarkt faktisch in zwei Bereiche. Zum einen sind da die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die einen höheren Lohn erhalten. Zum anderen die geringfügig Beschäftigten, die einen niedrigen Lohn erhalten. 90 Prozent aller Beschäftigten mit Minijob werden unterhalb der Niedriglohnschwelle bezahlt.
ver.di PUBLIK | Werden geringfügig Beschäftigte auch in anderer Hinsicht benachteiligt?
Voss | Ja, im Minijob erwerben die Betroffenen keine Ansprüche auf die soziale Sicherung. Die Unternehmen rechnen damit, dass die Betroffenen sozial anders abgesichert sind, zum Beispiel durch den Haushaltskontext oder über den Sozialstaat. Zwei Drittel aller Minijob-Beschäftigten sind Frauen. Vor allem für sie ist das geringfügige Beschäftigungsverhältnis ein Risiko, weil Minijobs keine eigenständige Alterssicherung bieten. Die Altersarmut ist eine tickende Zeitbombe.
ver.di PUBLIK | Wie wirkt sich die geringe Bezahlung auf den deutschen Arbeitsmarkt insgesamt aus?
Voss | Der Niedriglohnsektor verfestigt sich. Vor allem betroffen sind Handel, Gastgewerbe und Reinigungsgewerbe. Dort sind 40 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse Minjobs. Der Kostendruck in diesen Branchen ist hoch und wird in der Praxis über Minijobs auf die Beschäftigten abgewälzt. Unternehmen, die in diesem Wettbewerbsumfeld auf vollwertige Beschäftigung setzen, stehen in der Gefahr, durch Billig-Wettbewerber verdrängt zu werden.
ver.di PUBLIK | Wie entwickelt sich die geringfügige Beschäftigung?
Voss | Die ausschließlich geringfügige Beschäftigung liegt seit einigen Jahren konstant hoch bei fast fünf Millionen. Dafür wächst die geringfügige Beschäftigung im Nebenjob. Wir sollten uns ernsthaft fragen, ob es eine gute Entwicklung ist, dass Leute zwei Jobs haben müssen, um über die Runden zu kommen. Beispiel soziale Dienstleistungen, deren Ausbau alle als wichtig ansehen: Dort läuft vieles nur noch über Teilzeitstellen. Hier arbeiten viele Frauen. Weil sie von dem Teilzeit-Gehalt nicht leben können, müssen sie einen Nebenjob haben.
ver.di PUBLIK | Ist die niedrigere Bezahlung rechtlich überhaupt zulässig?
Voss | Sogenannte Nettolohnabreden, die sich ausschließlich auf eine Erwerbsgruppe, in diesem Fall die geringfügig Beschäftigten, beziehen, sind rechtswidrig. Nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz müssen sie gleich bezahlt werden. Diese Bezahlung bezieht sich auf den Bruttolohn, nicht auf Nettolöhne. Daher ist die ganze Anlage der Sonderbehandlung geringfügiger Beschäftigung verkehrt. Deren Abschaffung hat ja auch der ver.di-Bundeskongress gefordert.
ver.di PUBLIK | Wie kommt es eigentlich, dass auch andere tarif- und arbeitsrechtliche Standards bei geringfügiger Beschäftigung häufig unterlaufen werden?
Voss | Durch den Sonderstatus Minijob hat sich in Betrieben und bei Beschäftigten offenbar festgesetzt, dass man nur abgespeckte Rechte hat. Nicht alle wissen, dass sie genauso wie sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Anspruch haben auf bezahlten Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Zuschläge für die Arbeit zu besonderen Zeiten.
ver.di PUBLIK | Wer kann die Gleichbehandlung im Betrieb durchsetzen?
Voss | Betriebsrätinnen und Betriebsräte sind traditionell diejenigen, die dafür sorgen, dass Gesetze im Betrieb auch umgesetzt werden. Aber nur jeder zehnte Betrieb im Handel hat einen Betriebsrat. Doch auch die geringfügig Beschäftigten selbst könnten ihre Rechte durchsetzen. Das geht oft nicht alleine, wie das Beispiel der KiK-Frauen zeigt. Sie haben mit Hilfe von ver.di höhere Löhne eingeklagt.
ver.di PUBLIK | Und wie kann man das politisch ändern?
Voss | Unserer Meinung nach ist das nur durch die Abschaffung des Sonderstatus möglich.
ver.di PUBLIK | Die Bundesregierung plant erstmal, die Verdienstgrenze von 400 auf 450 Euro anzuheben...
Voss | Das ist ein völlig falsches Signal. Es wird dann noch mehr dieser Beschäftigungsverhältnisse geben, die ohne soziale Absicherung und zugleich eine Niedriglohnfalle sind. Das kann definitiv überhaupt keine Vorwärtsstrategie für den Arbeitsmarkt sein. Man kann auch nicht von Fachkräftemangel und sozialen Standards auf dem Arbeitsmarkt reden, wenn man gleichzeitig die geringfügige Beschäftigung ausweitet. Das sind völlig widersprüchliche Signale.
Interview: Heike Langenberg
Wir sollten uns ernsthaft fragen, ob es eine gute Entwicklung ist, dass Leute zwei Jobs haben müssen, um über die Runden zu kommen