Anders links sein | Während sich Biografien seit Jahrzehnten beträchtlicher Beliebtheit erfreuen, blieben biografische Studien zur Arbeiterbewegung lange Zeit Mangelware. Erst in den letzten Jahren hat sich dies geändert: Ein wichtiges Beispiel dieses neuen Interesses an denjenigen Männern und Frauen, die der Gewerkschaftsbewegung ein Gesicht gegeben haben, ist Stefan Remekes Studie über Gerd Muhr und Maria Weber.

Die beiden – heute kaum mehr bekannten – Gewerkschafter waren langjährige stellvertretende DGB-Vorsitzende: der eine von 1969 bis 1990, die andere von 1972 bis 1982. Beide standen für eine neue Generation und einen neuen Typus von Gewerkschaftern, der geprägt war durch ein hohes Maß an Verantwortungsethik und -bewusstsein, der politische Ideale verfolgte, sie aber stets an die realen Rahmenbedingungen zurückband. Vom Autor werden Muhr und Weber als Vertreter einer sozialpolitischen Elite bezeichnet, die den Übergang zum Typus des „Gewerkschaftsmanagers“ markierte.

Während Muhr Experte für Sozialpolitik und Internationale Gewerkschaftspolitik war, engagierte sich Weber für eine alternative Familien- und Bildungspolitik. Beide scheuten sich dabei nicht vor Konflikten, auch nicht mit der SPD: Muhr, selbst SPD-Mitglied machte sich mit seiner Anti-Apartheitspolitik im Regierungslager nicht nur Freunde, und auch Weber, die der CDU angehörte, eckte in ihrer Partei in der Schulpolitik an. Stefan Remeke, Leiter einer Agentur für Historische Publizistik und Kenner der Gewerkschaftsgeschichte, vermittelt mit seiner Studie Einblick in eine (Gewerkschafts)Welt, die es in dieser Form heute nicht mehr gibt. Sein glänzend geschriebenes Buch zeigt viel Anteilnahme und Sympathie für die Protagonisten, ist dabei aber nie unkritisch oder unwissenschaftlich. Remeke verdeutlicht, was Muhr und Weber erreichten, zeigt aber auch Grenzen, so etwa, wenn gewerkschaftliche Interessen und Ziele an der Politik oder Verwaltung scheiterten. Kurz: Eine äußerst lesenswerte Doppelbiografie und zugleich ein wichtiges Stück deutscher Zeit- und Gewerkschaftsgeschichte. Jürgen Mittag

Stefan Remeke: Anders links sein – Auf den Spuren von Maria Weber und Gerd Muhr, Klartext-Verlagsgesellschaft, Essen, 592 Seiten, 42 €, ISBN 978-3837504880


Eine Geschichte der Novemberrevolution | Räteverfassung? Wirtschaftliche Demokratie auf Basis von Betriebsräten, in der die Arbeitenden selbst über Produktion und Politik entscheiden? Die Krise heute eröffnet eine neue gewerkschaftliche Debatte um die Demokratie im Betrieb: Kann der Räte-Gedanke die Entwicklung der Mitbestimmung zur Selbstbestimmung befruchten? Bei dieser Frage können wir aus der Geschichte lernen: Eine authentische und dokumentierte Analyse der Revolution von 1918/19 gegen Krieg und Kaiser und für eine sozialistische Republik liegt vor. Geschrieben wurde sie bereits vor nahezu 100 Jahren, jetzt wurde sie abermals veröffentlicht. Der Autor ist Richard Müller, Metallarbeiter, Gewerkschafter, Revolutionär und Mitbegründer der „betrieblichen ‚Revolutionären Obleute’“, der schlagkräftigsten Antikriegsorganisation in Deutschland während des ersten Weltkriegs. Dieses Buch kann den Blick auf die Vergangenheit wie auch auf die Gegenwart schärfen. Es ist ein beinah vergessenes Standardwerk. Rainer Knirsch

Richard Müller: Eine Geschichte der Novemberrevolution, Die Buchmacherei, Berlin, 5. Auflage mit Chronologie und Personenregister, 790 Seiten, 22,95 €, ISBN 978-3000354007