Ausgabe 07/2012
Der letzte Schrei
Die große Mehrheit der Bürger/innen will die Überschüsse der Deutschen Rentenversicherung gut investiert wissen: In die Bekämpfung Armut im Alter, die bald erschreckende Ausmaße annehmen wird. Und die Politik? Ergeht sich in wahltaktischen Manövern
Lautes Geschrei am Stachus: Auch den Münchener ver.di-Senioren wird ganz anders, wenn sie an ihre Rente denken.
Soll sie so aussehen, die Zukunft unseres reichen Landes? Viele Millionen Menschen, die nach einem Arbeitsleben zu Niedriglöhnen ihren Ruhestand in Armut verbringen müssen? Weil sie mangels auskömmlicher Alterseinkünfte arm sind? Halb Deutschland auf Hartz-IV-Niveau? Wenn die Politik die Weichen nicht grundlegend anders stellt, ist das eine reale Perspektive.
Als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter bei den zahlreichen "Rentenreformen" der letzten 20 Jahre vor verbreiteter Armut im Alter warnten, warfen Politik und Medien ihnen Panikmache vor. Im Spätsommer 2012 sprechen nun auch Bundessozialministerin Ursula von der Leyen, CDU, und der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel von drohender Altersarmut. Und tun so, als hätten sie dieses Problem eben erst entdeckt, seien aber schon tatkräftig dabei, es zu lösen.
Das halbe Land auf Stütze
Dabei hat die Ausbreitung von Armut im Alter in Deutschland längst begonnen, weiß Eric Seils, Sozialversicherungsforscher im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung: "Altersarmut droht nicht erst in der Zukunft. Sie wächst bereits seit Jahren." Die Bundesarbeitsministerin aber berücksichtige das nicht. Stattdessen streut ihr Ministerium Zahlen unters Volk, die tatsächlich Panik erzeugen können: Wer heutzutage 2 500 Euro brutto verdient und davon ununterbrochen 35 Jahre Rentenversicherungsbeiträge zahlt, erreicht mit seiner gesetzlichen Rente gerade einmal das Niveau der Grundsicherung im Alter.
Das würde bedeuten: Millionen Menschen, bis weit in den Mittelstand hinein, die heute ein Monatseinkommen von weniger als 2 500 Euro erzielen, wären als Rentner/innen zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen. Nach heutigen Zahlen müsste ein alleinlebender Mensch mit 688 Euro im Monat auskommen. Da würde ihm auch die private Altersvorsorge wenig nützen, denn eine Riester-Rente etwa würde angerechnet, die ergänzende Altersgrundsicherung entsprechend gekürzt.
Derlei Zahlen, die von Insidern der Deutschen Rentenversicherung Bund und Fachleuten aus deren Umfeld allerdings mit Skepsis betrachtet werden, sind gewaltiger sozialpolitischer Sprengstoff. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles wirft der CDU-Ministerin von der Leyen Panikmache vor, will damit aber ablenken von der Verantwortung ihrer eigenen Partei für die sich abzeichnende Misere. Schließlich war Rot-Grün unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder und dem Grünen Joseph Fischer als dessen Vize am Ruder, als die Rentenreformen 2001 und 2004 durchgezogen wurden. Ein weiterer Strippenzieher war der damalige Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier, SPD. Und unter Angela Merkel, CDU, war es SPD-Vizekanzler Franz Müntefering, der als erster von der "Rente mit 67" sprach. Ex-"Superminister" Wolfgang Clement und Peer Steinbrück als Bundesfinanzminister, beide SPD, halfen 2007 nach Kräften mit, sie durchzusetzen.
Vertrauen in die gesetzliche Rente klar gestiegen
Von Panikmache spricht bei den Zahlen des Von-der-Leyen-Ministeriums auch die ver.di-Sozialexpertin Judith Kerschbaumer. Nicht zuletzt, weil derlei Prognosen geeignet seien, das Vertrauen der Arbeitnehmer/innen in das System der gesetzlichen, umlagefinanzierten Rentenversicherung erneut zu untergraben. Dieses Vertrauen ist in jüngster Zeit nämlich wieder deutlich gewachsen, während durch die weltweite Finanzkrise das Prinzip der privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge aufgrund seiner grundlegenden Mängel kräftig in Misskredit geraten ist.
Klare Belege für das gestiegene Vertrauen in die gesetzliche Rente lieferten zuletzt repräsentative Meinungsumfragen von Infratest dimap und Forsa. Auf die Forsa-Frage, wozu die bisher erzielten Überschüsse der Deutschen Rentenversicherung verwendet werden sollten, plädieren 80 Prozent der Bürger/innen dafür, sie anzusparen, um zum Beispiel der Altersarmut und künftigen Rentenkürzungen entgegenzuwirken. Lediglich 17 Prozent der Befragten hätten lieber eine geringfügige Senkung der Rentenbeiträge. Und das einheitlich und quer über alle Altersgruppen, über beide Geschlechter, über Ost- und Westdeutschland, über alle Bildungsabschlüsse und fast alle parteipolitischen Präferenzen hinweg (siehe Grafik).
Die dünnen Vorschläge und Konzepte von Bundessozialministerin und SPD-Vorsitzendem zur Bekämpfung der drohenden Altersarmut sind in den zurückliegenden Wochen auf ein unvermutet starkes öffentliches Interesse gestoßen, obwohl - oder gerade weil - sich von der Leyens "Zuschuss-Rente" und Gabriels "Solidar-Rente" nicht so sehr unterscheiden. Die Ministerin hat nicht einmal die eigene Regierungskoalition hinter sich. Und der SPD-Vorsitzende bleibt mit seinem "Konzept zur Bewältigung der rentenpolitischen Herausforderungen" weit hinter der Beschlusslage seiner Partei zurück: Weder will er, wie vom Parteitag letztes Jahr beschlossen, die "Rente mit 67" so lang aufschieben, bis eine nennenswerte Zahl von Arbeitnehmer/innen sie überhaupt erreichen kann, noch will er am künftigen Rentenniveau von höchstens 43 Prozent etwas ändern. Stattdessen präsentiert er, vermeintlich volksnah, die Idee, dass künftig jeder nach 45 Versicherungsjahren abschlagsfrei in Rente gehen können soll - ein Zückerchen für eine absolute Minderheit, innerhalb derer wiederum Frauen eine absolute Minderheit darstellen dürften. Und auch er plädiert für 850 Euro Mindestrente für langjährig Versicherte - mit dem Unterschied, dass man dafür nicht mehr geriestert haben muss.
Die Parteilinke will allerdings beim Parteikonvent am 24. November 2012 eine weitere Absenkung des Rentenniveaus verhindern und eine stabile Verankerung der 50-Prozent-Marke durchsetzen. Dabei weiß sie eine deutliche Mehrheit der Wählerschaft hinter sich: Eine Umfrage von Infratest dimap für den "Deutschland-Trend" der ARD hat ergeben, dass lediglich sechs Prozent der Befragten mit einem Absenken auf 43 Prozent einverstanden wären.
Eine große Mehrheit der Wähler will sich jedenfalls nicht mehr mit dem ständigen Drehen an dieser und jener Schraube des Rentensystems abfinden in einer Situation, in der der Austausch großer Maschinenteile angesagt ist: die Senkung des Renteneintrittsalters wieder auf 65 Jahre, die Anhebung der gesetzlichen Rente wieder auf ein menschenwürdiges Gesamtniveau und, mehr als 20 Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung, die Angleichung der Renten in Ostdeutschland an das Westniveau. Das heißt: Weg von der Rentenpolitik nach Kassenlage, zurück zum Prinzip der Sicherung des Lebensstandards. Was die Finanzierung angeht, so haben Ende September mehr als 40 000 Menschen bei Demonstrationen auf ein probates Mittel aufmerksam gemacht: UmFairteilen!
Lesetipps: "Arm, Ärmer,Altersarmut", "sopoaktuell", im Internet unter www.sopo.verdi.de. | Christoph Butterwegge/Gerd Bosbach/Matthias W. Birkwald (Hg.), "Armut im Alter - Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung", Campus-Verlag, november 2012, 396 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-593-39752-8