Im Betriebsratsbüro hängt eine Statistik: Zwischen 2000 und 2011 sind die Preise in Deutschland um 19,3 Prozent gestiegen. Die Löhne an der Neurologischen Klinik Westend in Bad Wildungen dagegen nur um fünf Prozent. Das war das stärkste Argument des Betriebsratsvorsitzenden Jürgen Schluckebier, als es um den Haustarifvertrag ging. „Ein Durchbruch“, sagt Florian Dallmann von ver.di Nordhessen. Der Vertrag schreibt für eine der vielen Reha-Kliniken der Region Gehaltserhöhungen und die Kopplung der Gehälter an Lohnerhöhungen im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst ab März 2014 fest.

Am Anfang stand die Unzufriedenheit. Es gab vor zwei Jahren kaum ver.di-Mitglieder, aber den Betriebsrat und ein paar Leute, die etwas ändern wollten. Sie hatten genug davon, immer wieder aus dem Frei geholt zu werden. Sie wollten geregelte Gehaltserhöhungen, nicht nur die seltene Gnade von ein paar Euro. Als es an einigen Kliniken der Wicker-Gruppe, zu der auch die Reha-Klinik Westend in Bad Wildungen früher gehört hatte, zu Protesten gegen schlechte Arbeitsbedingungen kam, war das der Anstoß. "Wir sind den Kollegen dafür dankbar", sagt Jürgen Schluckebier. "Unser Ziel war klar: ein Tarifvertrag. Mehr Geld - und damit hoffentlich auch mehr Leute, die bei uns arbeiten wollen." Gelingen würde das nur mit mehr ver.di-Mitgliedern. Es folgten Betriebsversammlungen und Aktionen vor dem Haus, scheel beäugt von der Geschäftsleitung. Erst standen nur 15 Leute draußen. Einige Monate später waren es über 100 ver.dianer. Eine Tarifkommission wurde gewählt, Ende 2012 war der Vertrag unterschrieben.


Ilona Kubitz-Zamzow

Ilona Kubitz-Zamzow, 57, Pflegeassistentin: Ich habe 2011 in den Zeitungen verfolgt, dass Kollegen der Wicker-Kliniken auf die Barrikaden gegangen sind. Im August war hier in Bad Wildungen ihre große Demo. Da bin ich hingegangen, klar. Zu der Zeit waren an unserer Klinik nur wenige in der Gewerkschaft – was ich dumm fand. Also hab ich mit vielen Kollegen geredet, mit Manuela zum Beispiel. Wir haben uns immer mal draußen getroffen, sie hat geschimpft, ich hab geschimpft. Auf den Stationen war zu wenig Personal. Wenn ich sieben Tage gearbeitet hatte und wusste, jetzt hab ich zwei Tage frei, bin ich mit dem Gefühl nach Hause gefahren: Krieg ich wirklich frei? Mit Glück hatte ich einen Tag für mich, am zweiten klingelte es Sturm: Kannst du ‘ne Spätschicht übernehmen? Das macht einen fertig. Aber allein ändert man nichts. Da hab ich Kollegen genervt. Manuela konnte ich schnell überzeugen.


Manuela Schulz

Manuela Schulz, 43, Krankenschwester: Ilona hat Tabellen rausgeholt und mir gezeigt, was wir mit Tarif verdienen könnten. Bei uns betreuen immer weniger Leute immer mehr schwer pflegebedürftige Patienten. Vor zwei Jahren spürte ich endgültig: Ich bin am Limit. Vieles, was ich gelernt habe, konnte ich nicht mehr anwenden, weil die Zeit nicht reichte. Therapeutisches Waschen – der Patient tut selbst etwas, ich helfe nur – dauerte zu lange, aber es ist nötig. Dann verließen viele erfahrene Kollegen das Haus. Einige wollten unter dem Druck nicht mehr arbeiten. Aber gerade sie waren wichtig für die Patienten. Den neurologischen Blick kriegt man nicht in ein paar Monaten. Unsere Arbeit, zum Beispiel mit Schlaganfallpatienten, ist physisch und psychisch schwer. Man muss erst lernen, mit einem Blick zu erfassen, was der Patient braucht. Da habe ich Angst bekommen: Was passiert, wenn die erfahrenen Leute gehen? Wir müssen was tun, gerade wir, die schon lange dabei sind. Als ich dann mit anderen zum ersten Mal vor der Klinik stand, war das ein toller Moment. Ich bin zu meiner Überraschung sogar in die Tarifkommission gewählt worden. Als wir zusammensaßen und die Köpfe rauchten, dachte ich: Hier bin ich richtig. Jetzt haben wir den Tarifvertrag. Cool finde ich, dass wir 30 Prozent mehr bekommen, wenn wir aus dem Frei geholt werden. Darauf war ich stolz, aber der Arbeitgeber richtet sich nicht danach; er holt die Leute, die gebraucht werden, oft einfach nicht. Wir müssen noch viel tun, damit der Vertrag umgesetzt wird.


Udo Münchow

Udo Münchow, 46, Physiotherapeut: Ich habe noch einen zerknitterten ÖTV-Ausweis, so lange bin ich schon dabei. Als in der Klinik immer mehr Unruhe aufkam, haben wir paar ver.dianer zuerst dafür gesorgt, dass alle Betriebsratsmitglieder bei ver.di eintreten. Dann hab ich meine Therapeutenkollegen angesprochen. Wenn du ein paar Gespräche über die Gewerkschaft geführt hast, merkst du schnell, bei wem es sich lohnt dranzubleiben und wer dir gar nicht zuhört. Ich hab erst mal die leichten Nüsse geknackt. Die anderen stehen jetzt an. Wir haben heute 105 Mitglieder, schön, aber wir brauchen die anderen auch noch. Mein Argument: Kann ich sie mit ins Boot holen, damit auch ihre Meinung zählt? Wer mitreden und mitbestimmen will, muss Mitglied werden.


Dirk Meißner

Dirk Meißner, 44, Physiotherapeut: Wenn wir bessere Arbeitsbedingungen wollen, brauchen wir ver.di. Ich bin im vorigen Jahr eingetreten, weil das die einzige Möglichkeit ist, was zu bewirken. Ich sage nicht: ver.di mach mal. Darüber hab ich geredet, mit Stationshilfen, Pflegekräften, Therapeuten. Es kochte im Kessel, es war ständig Thema auf den Fluren, dass die Leute überlastet sind. Ich hab gesagt: Ihr seid selbst schuld, wenn sich nichts ändert. Tut was. Das war drastisch, ich bin halt direkt. Wir haben hier junge Therapeuten, die können keine Familie ernähren, trotz guter Ausbildung und harter Arbeit. Einer holt sich Wohngeld. Wie soll jemand gut arbeiten, wenn er so bezahlt wird? Darunter leiden auch die Patienten. Damit wir mehr ver.dianer werden, hab ich unseren Flyer verteilt, in der Küche, in Therapieräumen, an den Computern. Ihn dreist neben den Speiseplan gehängt, nicht nur auf meiner Station. Am nächsten Morgen waren alle weg, hatten bloß die Nacht überstanden. Hab ich halt neue geholt. Dann waren die auch weg, so hat es schließlich jeder mitgekriegt, jeder kannte die Flyer. Da hat die Geschäftsleitung gemerkt: Es ist was im Gange. Als nächstes folgen Verhandlungen über die Eingruppierung der Kollegen. Im Moment hab ich auf der Station zu strampeln, wegen des hohen Krankenstands. Ich lauf wie ein Hamster im Rad, damit kein Patient untergeht. Die Überlastung bleibt Thema.