Ausgabe 07/2013
Konstruierte Skandälchen
Auch sogenannte Qualitätsmedien verbreiten - gezielt oder mangels Sachkenntnis - immer mehr falsche oder irreführende Nachrichten. Ein Beispiel aus der "Süddeutschen Zeitung"
Schnell in die Tasten gegriffen
von Henrik Müller
Der Mainstream, wörtlich: Hauptstrom, ist die Denkart, die in einem Land Politik und Medien und deren Akteure beherrscht. Hierzulande ist er seit vielen Jahren durch die herrschende Meinung geprägt, dass "der Markt" alle Probleme löse. Auch eher harmlose Themen werden dabei von den Medien des Mainstreams passend getrimmt. Zum Beispiel die Bemessungsgrenzen in der gesetzlichen Sozialversicherung, deren alljährliche Anpassung an die Lohnentwicklung eigentlich Routine ist und wobei die Bundesregierung von der Rechtslage her kaum Ermessensspielraum hat.
In diesem Jahr versucht die Süddeutsche Zeitung (SZ) plötzlich, daraus kurz nach der Bundestagswahl einen kleinen Skandal zu zimmern: "Deutlich höhere Sozialbeiträge für Arbeitnehmer" titelt sie am 10. Oktober. "Auf die Arbeitnehmer kommen 2014 deutlich höhere Sozialabgaben zu", beginnt der Text. Und noch schlimmer: "Weil die Unternehmen etwa die Hälfte der Beiträge zahlen, drohen auch ihnen für jeden Beschäftigten ähnlich hohe Kosten."
Die amtierende Bundesregierung wolle eine entsprechende Verordnung in der folgenden Woche beschließen: "Das Papier liegt der Süddeutschen Zeitung vor", heißt es bedeutungsschwanger. Dem geneigten SZ-Leser schwillt der Kamm: Da haben sie versprochen, die Steuern nicht zu erhöhen, und jetzt tricksen sie mit den Sozialabgaben.
Aber was die Süddeutsche da schreibt, ist schlicht und einfach falsch, mindestens sehr irreführend, denn die Anhebung der Bemessungsgrenzen trifft keineswegs "die" Arbeitnehmer und "jeden" Beschäftigten. Nach vielen Umwegen, weit hinten im Text, kommt es verschämt ans Licht: "Eine höhere Belastung entsteht also für alle Arbeitnehmer, die derzeit mehr als 3 937,50 Euro brutto im Monat verdienen."
Wer sich auf die anschließend abgedruckten Beispielrechnungen verlässt, wird auf einen neuen Holzweg geführt. Statt selber eins und eins zusammenzuzählen, bemüht die Redaktion eigens einen "Professor für Steuerwirkungslehre" aus Berlin. Dessen Zahlen, die die SZ nennt, sind aber allesamt nicht nachvollziehbar. Vielleicht hat er gleich eine fiktive Steuerersparnis von der Mehrbelastung abgezogen; man wird nicht schlau daraus.
Korrekt ist jedenfalls, dass alle Arbeitnehmer/innen mit einem monatlichen Bruttoentgelt bis zu 3937,50 Euro für das nächste Jahr von Gesetzes wegen keine höhere Belastung in der gesetzlichen Sozialversicherung zu erwarten haben. Wer bisher mehr als 3937,50 Euro brutto verdient, muss im Westen mit einer monatlichen Mehrbelastung von zwischen 0,01 und maximal 27,08 Euro rechnen, im Osten zwischen 0,01 und 21,60 Euro. Dafür bekommt er aber auch eines Tages entsprechend mehr Rente.
Dessen ungeachtet aber wird die Nachricht von den "deutlich höheren Sozialbeiträgen für Arbeitnehmer" auch in vielen anderen Medien - unter Berufung auf die SZ - wörtlich übernommen und zieht meinungsmachend durch's Land.
Wie sich Beiträge bemessen
Arbeitnehmer/innen sind verpflichtet, Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung zu zahlen - jeweils in bestimmten Prozentsätzen ihres Bruttoentgelts: 18,9 Prozent zur Rentenversicherung, 3,0 Prozent zu Arbeitslosenversicherung, 15,5 zur Krankenversicherung und 2,05 Prozent (Kinderlose ab 24 Jahren 2,3) zur Pflegeversicherung. Die Hälfte der Beiträge wird ihnen monatlich vom Bruttoeinkommen abgezogen, die andere Hälfte muss der Arbeitgeber beisteuern (bei der Krankenversicherung etwas weniger). Und das alles bis zu bestimmten Einkommensgrenzen, eben den Beitragsbemessungsgrenzen, die alljährlich von der Bundesregierung neu festgesetzt werden (siehe Tabelle) - aber nicht nach Belieben, sondern entsprechend der durchschnittlichen Lohnentwicklung. Das Einkommen, das die Bemessungsgrenze übersteigt, bleibt beitragsfrei.
2014 2013 im Monat im Jahr im Monat im Jahr in der gesetzlichen Rentenversicherung West* 5950 71.400 5800 69.600 in der gesetzlichen Rentenversicherung Ost* 5000 60.000 4900 58.800 in der gesetzlichen Krankenversicherung** 4050 48.600 3937,5 47.250gilt auch für die Arbeitslosenversicherung** bundesweit, gilt auch für die Pflegeversicherung