Bibliotheken sind zwingend für Bildung, Ausbildung und lebenslanges Lernen. Trotzdem ist ihre Finanzierung nicht Pflicht für Länder und Kommunen, und das Büchereisterben geht weiter. 1000 waren es seit 1990 allein in Sachsen-Anhalt. Ein Besuch in der Musikbibliothek der Martin-Luther-Universität Halle/Saale

Von wegen "kann weg". Bibliothekarin Kerstin Thorwirth streitet für ein Bibliotheksgesetz in allen Bundesländern

"Haben Sie es schon gehört?" Die Musikhistorikerin betritt mit Schwung das gläserne Dienstzimmer der Bibliothekarin. Die Information duldet keinen Aufschub. Ja, Kerstin Thorwirth weiß es schon: Die Musikbibliothek der Stadt Halle an der Saale soll geschlossen werden, die Noten "werden für je einen Euro verschleudert", sagt sie. Der Vorschlag des Oberbürgermeisters, die Bestände zu verlagern, wie es offiziell heißt, betrifft auch die Musikbibliothek der Universität ganz direkt.

Seit 13 Jahren teilen sich drei Musikbibliotheken eine große Etage direkt am historischen Händelhaus: die der Stadt, der Uni und des Händel-Hauses. Sie ergänzen einander. Die der Uni ist eine wissenschaftliche Präsenzbibliothek für Lehre und Forschung, die nur in Ausnahmefällen einige ihrer zurzeit 72.653 Medien ausleiht. Die Bücherei der Stadt hat dagegen auch Rock und Pop und Musik für Kinder im Angebot, die Händel-Haus-Bibliothek sammelt historische Bestände mit Bezug auf den hier geborenen Komponisten.

Es hat damals viel Geld gekostet, die 350 Quadratmeter für die drei Büchereien einzurichten. Für alle gilt ein gemeinsames Konzept von Land, Stadt und Universität. Für die Kund/innen ist es ideal; sie finden alles dicht beieinander. Zwischen Uni- und Stadtbücherei steht nicht mal eine Wand, alles ist offen. Der Blick geht aus riesigen Fenstern aufs Händelhaus. Dieser Teil der Etage soll geräumt und dann vermietet werden.

30.000 Euro soll die Stadtbibliothek im nächsten Jahr einsparen. "Hauptsache, es wird in Sachsen-Anhalt weniger für Kultur und Bildung ausgegeben", sagt Thorwirth. "Vor einer Woche wollten Politiker der Stadt sämtliche Zeitungs- und Zeitschriftenabos für Halles Stadtbibliothek abbestellen." Öffentliche Proteste konnten das noch verhindern.

Sonntagsöffnung für alle?

Kerstin Thorwirth betreut die Musikbibliothek der Hallenser Uni als einzige Fachfrau. Geöffnet ist an fünf Tagen pro Woche, jeweils von acht bis 19 Uhr, elf Stunden. Sonntags steht die Zentralbibliothek der Uni offen, "was für die Studenten wichtig ist", so Thorwirth. "Aber Sonntagsöffnung für alle?" Sie schüttelt den Kopf. Auch die bei ver.di organisierten Fachleute haben das Thema heftig diskutiert. Erlaubt ist die Arbeit am Sonntag bisher an wissenschaftlichen Bibliotheken, das akzeptieren alle. An Öffentlichen Bibliotheken reichen bisher sechs Tage in der Woche. Kerstin Thorwirth unterstützt das. "Spiele und Bücher für den Sonntag mit der Familie kann ich mir am Sonnabend holen", sagt sie. "So viel Planung möchte sein." Und der Online-Bestellservice steht sowieso 24 Stunden am Tag bereit.

Früher arbeitete eine zweite Bibliothekarin mit ihr zusammen, aber die hat schon 2006 selbst gekündigt. "Vor einer der großen Entlassungs- und Sparwellen an der Uni. Sie wollte sich diesen Druck nicht mehr antun", sagt Thorwirth. Die Lücke spürt sie täglich. Jetzt schmeißt sie den Laden allein mit vier studentischen Hilfskräften. Die Musikstudentinnen kommen stundenweise und werden immerhin nach Tarif bezahlt. So wie Katharina Common, die seit zwei Jahren dabei ist. Sie bekommt inzwischen 10,50 Euro die Stunde. Aber ihre Zeit hier ist absehbar, sie schreibt schon an ihrer Bachelorarbeit über traditionelle Musik auf Bali. Ihre Nachfolgerin ist ausgewählt.

Als die Musikprofessorin nach der spontanen Beratung über die drohende Schließung der städtischen Musikbiliothek mit einem "Wir müssen jetzt was tun!" das Dienstzimmer hinter der Ausleihtheke verlässt, klingelt schon wieder das Telefon. Es kommt "mal eine gute Nachricht", sagt Kerstin Thorwirth, "unsere Neue darf anfangen! Wird sie ver.di-Mitglied, brauche ich eine Kampfente für sie, zur Begrüßung." Die meisten ihrer Hilfskräfte unterschreiben nach einer Weile auch die ver.di-Beitrittserklärung, dafür sorgt sie. Schon an der Eingangstür zur Bibliothek hängt ein ver.di-Plakat gegen die Kürzungen in Kultur, Bildung und Wissenschaft, die die Regierung in Sachsen-Anhalt für die kommenden Jahre plant. Im landesweiten Bündnis gegen das Totkürzen haben sich ver.di, GEW, der Studierendenrat der Martin-Luther-Universität, Studenten und Vertreter der von Schließung bedrohten Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Uni, Theaterleute und Künstler zusammengetan. ver.di ist eine treibende Kraft dabei.

Schwindel erregende fünf Millionen Euro sollen bis 2025 jährlich allein an den Hochschulen des Landes gestrichen werden - und 2014 zusätzlich noch einmal 26,5 Millionen aus dem Wissenschaftsbereich. Auch Theater und Schulen, Kitas, Feuerwehr und Polizei werden von Kürzungen betroffen sein.

Keine schwammigen Kann-Bestimmungen mehr

Wenn der Plan mit den konkreten Kürzungssummen auf dem Tisch liegt, will ver.di mit dem Bündnis unübersehbare Aktionen organisieren. In diesem Jahr sind in Sachsen-Anhalt schon Tausende zu Demonstrationen gekommen.

Kerstin Thorwirth gehört zur ver.di-Bundesarbeitsgruppe Archive, Bibliotheken und Dokumentationseinrichtungen, die sich für Bibliotheksgesetze in allen Bundesländern einsetzt. Noch besser wäre ein Bundesrahmengesetz für alle. Entscheidend sei, neue Bibliotheksgesetze nicht wie die drei schon bestehenden durch schwammige Kann-Bestimmungen zu verwässern, sondern die Finanzierung von Bibliotheken zur Pflichtaufgabe der Länder zu machen und einen Mindestbestand an Büchern und anderen Medien festzuschreiben. "Plus ausreichend Fachpersonal natürlich, gerade mit Blick auf die ständige Modernisierung der Bibliotheken, neue Medien und junge Kunden", sagt Norbert Konkol von der ver.di-Bundesverwaltung. Er schätzt, dass in den vergangenen 15 Jahren bundesweit mehr als 15.000 Bibliotheken geschlossen wurden.

Kerstin Thorwirth hat ständig die Ausleihtheke im Blick. Gerade nimmt Katharina einer Studentin die Gitarre ab und verstaut sie im Dienstzimmer, damit die Nutzerin die Hände frei hat für die Suche im Online-Katalog und in den Regalen. Die Arbeitsplätze sind jetzt fast alle besetzt. Jemand kopiert Noten für Konzertakkordeon, an einem Computer recherchiert ein älterer Mann über das Musikfestival von Luzern und Claudio Abbado. "Er ist der Beste", schwärmt der frühere Chemiker, der schon in Rente ist. An der Theke leihen sich Lehramtsstudentinnen Klaviernoten und Sim-Sala-Sing aus, ein Buch übers Singen mit kleinen Kindern. "Ich studiere Deutsch, Mathe und Musik", erklärt die eine. "Interessante Kombination", sagt Thorwirth. Und ohne Bibliotheken ist das einfach nicht zu schaffen.

Letzte Meldung vor Redaktionsschluss: Ende Oktober beteiligen sich mehr als 600 Musiker, Eltern mit Kindern und andere Musikbegeisterte an einer Protestaktion gegen das Einsparen der Musikbibliothek. Im Rathaus ist jetzt nicht mehr von Schließung die Rede. "Hoffentlich bleibt es dabei", sagt Thorwirth.

Weitere Infos unter:

biwifo.verdi.de

http://bibliothek.uni-halle.de/zweigbib/ha38

www.stura.uni-halle.de/aktionsbuendnis