Ausgabe 08/2013
Der Mindestlohn wird kommen
CDU, CSU und SPD haben sich auf die Grundlagen der Regierungspolitik der kommenden vier Jahre geeinigt. Stimmt die SPD-Basis zu, kann es an die Umsetzung des Papiers gehen. Gewerkschaften bewerten den Vertrag in verschiedenen Punkten positiv, äußern aber auch Kritik
Die Regierungspolitik der kommenden vier Jahre gewinnt mit dem Koalitionsvertrag an Konturen
Auf 185 Seiten haben CDU, CSU und SPD zusammengefasst, mit welchen politischen Schwerpunkten sie in den kommenden vier Jahren regieren wollen. Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske zeigte sich weitgehend zufrieden mit dem Ergebnis: "Mindestlohn, Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung und die Öffnung des Arbeitnehmerentsendegesetzes für alle Branchen stärken das Tarifvertragssystem. Für Millionen von Menschen werden so Löhne und Arbeitsbedingungen verbessert. Der Koalitionskompromiss stellt hier wichtige Weichen."
Die geplante Einführung eines allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde nannte er eine "Zäsur auf dem Arbeitsmarkt". Lange Zeit hatte sich die Union gegen diesen Mindestlohn gesträubt. ver.di und die Gewerkschaft Nahrung - Genuss - Gaststätten hatten 2006 eine Kampagne für den Mindestlohn gestartet und dafür gesorgt, dass Niedriglöhne in Deutschland zu einem öffentlichen Thema geworden sind. Bsirske geht davon aus, dass rund sieben Millionen Menschen von einem Mindestlohn in dieser Höhe profitieren werden.
Eingeführt werden soll der Mindestlohn zum 1. Januar 2015. Ausnahmen sind bis zum 1. Januar 2017 nur möglich, wenn repräsentative Tarifverträge für einzelne Branchen vorliegen. Allerdings wird der Mindestlohn bis zum 1. Januar 2018 eingefroren. ver.di will eine Erhöhung deutlich vor dem Jahr 2018 zum Gegenstand einer politischen Auseinandersetzung machen. "Nach oben sind die Grenzen offen", sagte der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Michael Sommer. Wichtig sei, dass die Erosion des Lohngefüges in Deutschland durch einen gesetzlichen Mindestlohn gestoppt werde. "Wir haben den Anspruch, dass Tarifverträge höher sind", sagte der Gewerkschafter. Auch bei Urlaub und Arbeitszeit werde in vielen Tarifverträgen von gesetzlichen Mindeststandards nach oben abgewichen.
Laut Koalitionsvertrag sollen in Zukunft Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden können, wenn ein besonderes öffentliches Interesse vorliegt - zum Beispiel um wirtschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Hinzu kommt eine Öffnung des Arbeitnehmerentsendegesetzes für alle Branchen. Sie fördert die tarifvertragliche Vereinbarung von branchenbezogenen Mindestlöhnen, die über dem gesetzlichen liegen. Diese drei Vorhaben gemeinsam "tragen zur Stärkung des Tarifvertragssystems und zur Stabilisierung von Flächentarifverträgen bei", heißt es in einer ersten ver.di-Bewertung. "Millionen von Beschäftigten werden Lohnzuwächse erhalten." Damit werde die Binnennachfrage gestärkt, außerdem komme es zu höheren Einnahmen bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen.
Bsirske begrüßte außerdem die Möglichkeit, mit 45 Beitragsjahren im Alter von 63 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen zu können. Dabei werden auch Zeiten der Arbeitslosigkeit angerechnet. "Das beendet für viele langjährig Versicherte die Rente mit 67." Auch die geplante Einführung einer Mütterrente sei positiv.
Wird der Koalitionsvertrag so umgesetzt, bleibt für den ver.di-Vorsitzenden die Handlungsfähigkeit des Sozialstaats eine Großbaustelle in den kommenden Jahren. Die vereinbarten Mehrausgaben deckten bei weitem nicht den hohen Investitionsbedarf im Bildungs- und Gesundheitssystem sowie bei der öffentlichen Infrastruktur. Das werde ver.di weiterhin zum öffentlichen Thema machen. Auch bei der Leiharbeit und bei Werksverträgen gebe es aus Sicht von Arbeitnehmervertreter/innen noch einiges an Arbeit.
CDU und CSU haben dem Vertrag Anfang Dezember zugestimmt. Der Mitgliederentscheid der SPD war bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe von ver.di PUBLIK noch nicht abgeschlossen. Stimmt die Mehrheit der SPD-Mitglieder ihm zu, soll am 17. Dezember Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, in ihrem Amt bestätigt werden. In den kommenden vier Jahren sollen die in dem Vertrag vereinbarten Vorhaben dann umgesetzt werden. Das werden die Gewerkschaften aufmerksam begleiten.
Der Koalitionsvertrag: Wichtige Punkte aus gewerkschaftlicher Sicht
Neue Ordnung am Arbeitsmarkt
- Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde ab 1. Januar 2015. In den ersten zwei Jahren sind Ausnahmen möglich. Laut Vertrag soll die Summe bis 2018 eingefroren werden.
- Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen bei besonderem öffentlichen Interesse
- Öffnung des Arbeitnehmerentsendegesetzes
- Verbesserung des Arbeitnehmerdatenschutzes
- Rückkehrrecht in Vollzeit für Teilzeitbeschäftigte
- Die Regelungen zur Eindämmung des Missbrauchs von Werkverträgen sind unzureichend. Auch dem Grundsatz von gleichem Lohn für gleiche Arbeit in der Leiharbeit wird der Vertrag nicht gerecht.
- Die im Vertrag angekündigte Schaffung der Tarifeinheit darf aus Sicht der ver.di nicht zu einer Einschränkung des Streikrechts führen.
Rente
- Abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren ab dem 63. Lebensjahr. Angerechnet werden sollen auch Zeiten der Arbeitslosigkeit.
- Berücksichtigung von Erziehungszeiten für Kinder, die vor 1992 geboren wurden.
- Anhebung der Zurechnungszeit bei der Erwerbsminderungsrente um zwei Jahre
- Aufwertung von niedrigen Renten für langjährig Versicherte
Handlungsfähiger Staat
Dem hohen gesellschaftlichen Investitionsbedarf in Bildung, Verkehr, Gesundheit, Pflege, Energiewende und sozialer Sicherung wird in dem Koalitionsvertrag nicht Rechnung getragen.
Gesundheit und Pflege
Die Krankenhausversorgung soll laut Koalitionsvertrag als wesentliches Element der Daseinsvorsorge angesehen werden. Das Personal soll besser in den Fallpauschalen abgebildet und die Stellen sind tatsächlich zu besetzen. Auch in der Pflege sollen die Personalkosten stärker berücksichtig werden. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine gesetzliche Personalbemessung, wie ver.di sie fordert, auch wenn in Pflegeeinrichtungen eine Mindestpersonalbemessung vorgesehen ist.
Zusatzbeiträge sollen einkommensabhängig finanziert werden, jedoch ist keine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung beabsichtigt.
Offen gebliebene Themen
- Ausbau des Kündigungsschutzes
- Reform des Befristungsrechts, um sachgrundlose und Kettenbefristungen zu verhindern und die unbefristete Beschäftigung zum Regelfall zu machen
- der soziale und arbeitsrechtliche Schutz von Minijob-Beschäftigten
- Ausbau der betrieblichen und der Unternehmensmitbestimmung
- Stabilisierung des Rentenniveaus auf hohem Niveau
- Ausbau der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung zu einer Bürgerversicherung