Freie Fahrt nur für einen gesetzlichen Mindestlohn für alle

von Heike Langenberg

Das Tischtennisspiel am ver.di-Stand hat seine Tücken. Die Platte hat mehrere große Löcher. Und wer nicht aufpasst, dessen Ball verschwindet blitzschnell darin. Schlupflöcher - wie auch beim Mindestlohn. Wenn der Anfang April vom Kabinett abgesegnete Gesetzentwurf bei der Beratung im Bundestag nicht noch verändert wird, sind Ausnahmen vom allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohn möglich. Für Langzeitarbeitslose soll er in den ersten sechs Monaten nicht gelten, Jugendliche müssen erst den 18. Geburtstag gefeiert haben, bevor ihnen die 8,50 Euro pro Stunde zustehen.

"Würde kennt keine Ausnahmen. Wir brauchen einen ausnahmslosen Mindestlohn", sagte der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske zum Auftakt der Mindestlohntour Mitte Mai in Gießen. In 50 bis 60 Städten will die Gewerkschaft gemeinsam mit Sozialverbänden und Arbeitsloseninitiativen den Sommer über auf die von der Bundesregierung geplanten Ausnahmen aufmerksam machen. Dazu stehen auch Gespräche mit Abgeordneten und Ministerpräsident/innen auf dem Programm. Und die Tischtennisplatte macht dabei die Tücken von Ausnahmen deutlich.

Beim DGB-Bundeskongress Mitte Mai in Berlin hatte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, SPD, die Ausnahmen für junge Menschen damit gerechtfertigt, dass die sich ansonsten womöglich nicht mehr für eine Ausbildung entscheiden, sondern direkt ins Berufsleben einsteigen. Insbesondere für Hauptschüler/innen könnten so "Fehlanreize" vermieden werden.

Das sieht die ver.di Jugend ganz anders. Viele junge Menschen werden oft nur befristet eingestellt. "Die prekäre Situation junger Beschäftigter wird folglich durch niedrige Löhne für jüngere Beschäftigte noch verschärft", heißt es in einer Stellungnahme auf ihrer Website http://verdi-jugend.de/mindestlohn. Außerdem sei den jungen Menschen die Bedeutung einer Berufsausbildung durchaus bewusst.

Auch die Erwerbslosen in ver.di kritisieren die für sie geplante Ausnahme. "Der Gesetzentwurf macht Langzeitarbeitslose vorsätzlich und willkürlich zu Menschen zweiter Klasse", sagte deren Vorsitzende Ulla Pingel. "Seit mehr als zehn Jahren sind Arbeitslose durch die Hartz-IV-Gesetze gezwungen, fast jede Arbeit anzunehmen, selbst wenn sie nahe der Sittenwidrigkeit entlohnt wird. Diese Hungerlohn-Praxis hat aber nachweislich nicht dazu geführt, mehr Langzeitarbeitslose in Arbeit zu bringen." Pingel geht davon aus, dass rund 1 Million Erwerbslose von den geplanten Ausnahmen betroffen sein werden.

Drehtüreffekt festigt Lanzeitarbeitslosigkeit

Das für Sozialpolitik zuständige ver.di-Bundesvorstandsmitglied Eva Maria Welskop-Deffaa befürchtet einen Drehtüreffekt: "Langzeitarbeitslose sind faktisch der Willkür der Arbeitgeber ausgeliefert, wenn ihnen bis zum Beginn des gesetzlichen Kündigungsschutzes sechs Monate lang der Mindestlohn vorenthalten wird und sie anschließend durch den nächsten Langzeitarbeitslosen billig ersetzt werden." Das würde eher zu einer Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit führen als zu deren Abbau. "Erwerbslose sind keine Menschen zweiter Klasse, wenn ihre Arbeitslosigkeit länger als zwölf Monate andauert. Sie haben das gleiche Recht auf angemessene Sicherung ihrer Existenz durch Erwerbsarbeit wie alle anderen Beschäftigten auch", sagte die Gewerkschafterin.

"Wir brauchen einen ausnahmslosen Mindestlohn", forderte Bsirske. Unterstützt wird er dabei von der Mehrheit der Bevölkerung. 58 Prozent der Befragten sprachen sich bei einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts infratest dimap im Auftrag des DGB für einen Mindestlohn ohne Ausnahmen aus.


Ablehnung in der Schweiz

77 Prozent der Schweizer haben Mitte Mai die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns abgelehnt. 4 000 Franken, umgerechnet rund 3 270 Euro, hatte ein Bündnis von Gewerkschaften gefordert. Trotz des Misserfolgs sei diese Marke jetzt in der Schweiz gesetzt, heißt es in einer Pressemitteilung der Gewerkschaft unia. Die Kritik habe sich nicht so sehr gegen die Höhe des Mindestlohns, sondern gegen dessen gesetzliche Verankerung gerichtet.

Schon im Vorfeld hatten zahlreiche Unternehmen und ganze Branchen angekündigt, den von ihnen gezahlten Lohn auf mindestens 4 000 Franken pro Monat zu erhöhen. Dazu zählen auch Discounter wie Lidl und Aldi oder Kleider- und Schuhhandelsketten.

www.lohnschutz.ch