Hans-Ulrich Jörges

Jeden Donnerstagmorgen kommentiert Hans-Ulrich Jörges aus der Stern-Chefredaktion in der Sendung Der schöne Morgen auf Radio eins vom Rundfunk Berlin/Brandenburg (rbb) aktuelle politische Themen. Am 26. Juni 2014 sagte er seine Meinung zu den geplanten Ausnahmen beim Mindestlohn, kurz bevor das Mindestlohngesetz vom Parlament verabschiedet wurde. ver.di publik dokumentiert seinen Kommentar

RADIO EINS-MODERATOR: Noch letzte Woche hat die Generalsekretärin der SPD getönt: "Ab dem ersten Januar 2017 gilt für alle Branchen ohne Ausnahme, in Ost und West, gleichermaßen ein Mindestlohn von 8,50 Euro." Arbeitsministerin meinte ich natürlich. Ja, so steht es auch im Koalitionsvertrag. Aber es kann die bravste Nahles nicht in Ruhe leben, wenn der böse CSU-Nachbar es nicht will. Vor allem aus der bayerischen Provinz, aber auch aus dem Wirtschaftsflügel der Union kommen immer mehr Ausnahmeforderungen. Aus der Chefredaktion des Stern kommentiert Hans-Ulrich Jörges. Guten Morgen.

HANS-ULRICH JÖRGES: Guten Morgen.

RADIO EINS-MODERATOR: Der CDU-Generalsekretär Tauber hat die Debatte verteidigt: Der Koalitionsvertrag enthalte die Eckpfeiler, über die Details dürfe gestritten werden. Wie denken Sie darüber? Soll es Ausnahmen beim Mindestlohn geben?

HANS-ULRICH JÖRGES: Klare Antwort: Nein. Jedenfalls keine neuen Ausnahmen. Schon die geplanten halte ich für fragwürdig. Etwa für Langzeitarbeitslose. Die Absicht ist edel, die nämlich in Arbeit zu bringen, indem man sie besonders günstig anbietet. Aber die Wirklichkeit wäre trübe, nämlich erneut entwürdigend. Ich bin schon da dagegen. Ausnahmen halte ich nur bei Schülern und Studenten für gerechtfertigt. Dann nämlich, wenn Praktika von der Schule oder der Uni gefordert werden. Nicht aber, wenn Studenten versuchen, in den Beruf zu kommen, nachdem sie das Studium abgeschlossen haben. Andrea Nahles hat in diesen Tagen einen Satz gesagt, der mich geradezu elektrisiert hat - ich muss das sagen, es ist keine Übertreibung. Sie wolle der Generation Praktikum den Garaus machen. Bravo. Endlich. Ich halte es für einen gesellschaftlichen Skandal erster Ordnung, wie junge Leute beim Berufseintritt von einem Praktikum zum anderen geschoben werden. Oft sogar unbezahlt, in jedem Fall aber übel ausgebeutet. Wir müssen ja mal selbstkritisch sagen als Medienleute: Gerade bei Medien ist das so, traurigerweise. Da wird eine ganze Generation betrogen, und damit müssen wir Schluss machen. Ich hoffe nur, dass Nahles es wirklich ernst meint damit. Und ich kann das Geheule nicht mehr hören: "Ja, aber dann findet meine Tochter oder mein Sohn doch gar kein Praktikum mehr." Wer sagt denn das? Sie werden doch gebraucht an vielen Stellen.

Genauso empört bin ich bei der Debatte über Rentner, Saisonarbeiter, Spargelstecher, Erdbeerpflücker aus Polen und Rumänien: "Dann wird doch das Obst und Gemüse teurer." Ja, dann wird es das eben. Verflucht. Ein Mindestlohn ist ein Mindestlohn ist ein Mindestlohn. Und kein Richtlohn zur freiwilligen Anwendung. Das hat was mit Menschenwürde zu tun, egal, was die Erdbeere kostet. Die deutsche Wirtschaft brummt, und wir sind viel zu billig, das hören wir immer wieder von unseren europäischen Nachbarn, die sich sozusagen niederkonkurriert fühlen.

Und noch ein Wort in eigener Sache, ich habe das eben schon mal angeschnitten: Die Zeitungsverleger jammern wegen der Zeitungsausträger. Der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio hat gerade ein Gefälligkeitsgutachten vorgelegt, in dem er den Mindestlohn als Gefährdung der Pressefreiheit bezeichnet. Schämt ihr euch eigentlich gar nicht? Ausbeutung als Verfassungsgrundsatz? Dafür gibt es nur ein Wort: schäbig. Wenn ich noch kein Anhänger des Mindestlohns gewesen wäre, durch diese Debatte wäre ich es geworden.

"Ich halte es für einen gesellschaftlichen Skandal erster Ordnung, wie junge Leute beim Berufseintritt von einem Praktikum zum anderen geschoben werden. Oft sogar unbezahlt, in jedem Fall aber übel ausgebeutet."