Leben im Ruhestand - zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft heißt ein neues Buch, das sich kritisch mit dem neuen, propagierten Leitbild des jungen, fitten, gesunden, bürgerschaftlich engagierten Ruheständlers und seines weiblichen Pendants auseinandersetzt. Die neuen "jungen Alten" sind selbstverständlich selbst für ihre Gesundheit verantwortlich, halten sich mit allerlei Aktivitäten körperlich und geistig in Schwung - damit sie flugs da einspringen können, wo etwa Pflege- und Betreuungspersonal fehlt, weil es abgeschafft wurde. Natürlich ehrenamtlich, also umsonst. In einem Forschungsprojekt an der Universität Jena wurde der Wandel des Altersbilds untersucht. Die Wissenschaftler/innen haben Männer und Frauen der Jahrgänge 1938 bis 195o befragt und Medien sowie die Altenberichte der Bundesregierung analysiert. Herausgekommen ist ein Buch, das Realitäten des Ruhestandes jenseits propagierter Leitbilder zeigt. Mit den Projektleitern - dem Jenaer Soziologen Professor Stephan Lessenich, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, und seiner Kollegin Dr. Silke van Dyk - sprach Ulla Lessmann.

ver.di publik: Das Bild des Ruhestandes hat sich in den letzten Jahrzehnten rapide gewandelt: Vom "verdienten Ruhestand" vor dem Fernseher über den "Unruhestand" der auf Kreuzfahrtschiffen ihre üppige Rente verprassenden Alten bis zum aktuell propagierten "produktiven jungen Alten". Wie erklärt die Altersforschung diesen Wandel?

Stephan Lessenich

Stephan Lessenich: Der verdiente, womöglich passiv genießende Ruhestand ist in Misskredit geraten, weil sich die Gesellschaft und vor allem die Arbeitswelt gewandelt haben. Die neoliberale Haltung hinter der Hartz-Gesetzgebung - fördern und fordern - wird auf Rentnerinnen und Rentner übertragen: Auch sie müssen "gefördert" werden, dürfen nicht passiv sein, man erwartet produktive Aktivitäten, Mobilität, ehrenamtliches Engagement, die Ausschöpfung der sogenannten "Potenziale des Alters", wie entsprechende Kampagnen heißen. Die angeblich "zu vielen" Alten, die der "Gesellschaft auf der Tasche liegen", sollen sich ihre Rente quasi noch mal verdienen - und zwar diesmal ehrenamtlich.

Sylke van Dyk: Diese neue Inpflichtnahme der jungen Alten steht im Zusammenhang mit dem Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Die fitten Alten werden als Lückenfüller gebraucht, wo beispielsweise im Kinder- und Jugendbereich oder in der Pflege Stellen gestrichen werden. Diese jungen Alten werden als noch nicht ausgeschöpfte kostenlose Ressource betrachtet, und damit wird die Idee von der wohlverdienten Entpflichtung und "späten Freiheit" in Frage gestellt.

Lessenich: Es wird immer häufiger eine moralische Verpflichtung impliziert, die mit der quantitativen Zunahme Älterer begründet wird: Macht Euch nützlich! Zum Beispiel bei der Kinderbetreuung, denn immer mehr Frauen wollen und müssen arbeiten. Und da der Staat nicht für ausreichende Kinderbetreuung sorgt, sollen Oma und Opa einspringen.

ver.di publik: Empfinden die von Ihnen Befragten diesen öffentlichen Druck?

Lessenich: Die Verpflichtung wird problematisiert. Sie möchten keine Ausfallbürgen sein.

ver.di publik: Gibt es dabei Unterschiede zwischen den West- und den Ost-Rentner/innen?

Lessenich: Ja. Die Haltung "Ich schulde dem Staat nichts" haben wir nur unter Ostdeutschen gefunden. Sie haben eine stärkere Nähe zum Sozialstaat, eine kapitalismuskritische Haltung, eine schärfere Wahrnehmung des Neoliberalismus, der den sorgenden Staat abbaut. In vielen anderen Bereichen gibt es keine Ost-West-Unterschiede.

ver.di publik: Und zwischen Männern und Frauen?

Lessenich: Nicht, was das Ausmaß des Engagements angeht. Frauen engagieren sich aber vielfältiger und nehmen sich selber als aktiver wahr.

Van Dyk: Ehrenamtliches Engagement findet übrigens überwiegend ganz traditionell in Vereinen oder Kirchen statt. Moderne Projekte wie "Seniorenbüros" spielen im Alltag quasi keine Rolle.

ver.di publik: Die Kampagnen für "Potenziale des Alters", dafür, sein Wissen der jüngeren Generation zur Verfügung zu stellen, seine Kompetenzen und Erfahrungen "einzubringen", werden mit dem Versprechen größerer Wertschätzung des Alters verknüpft. Wird dieses Versprechen überhaupt eingelöst?

Sylke van Dyk

Van Dyk: Es gibt ein gutes Beispiel für die Diskrepanz zwischen politischer Programmatik und der wenig wertschätzenden Alltagspraxis: Es wird lebenslanges Lernen und die Weitergabe von Erfahrungswissen propagiert. Gehen die Senioren aber wirklich an die Unis, nehmen sie dort angeblich den Studierenden die Plätze in den Hörsälen weg und nerven angeblich in den Seminaren mit ihrem "Erfahrungswissen".

Lessenich: Solche Begriffe sind politische Kopfgeburten. Das Erfahrungswissen von Millionen Ostdeutschen über 50 wurde nach 1989 ohne Ansehen der Person nicht gebraucht, das wollte keiner. Diese Menschen reagieren schon verbittert, wenn sie dann hören, Erfahrungswissen sei gefragt.

ver.di publik: Die Kampagnen mit den jungen, fitten Alten sollen aber auch gegen Altersdiskriminierung wirken. Funktioniert das?

Lessenich: Nein. Es geht nur um die Aufwertung der leistungsfähigen, gesunden, jungen Alten. Die Hochaltrigen, die Pflegebedürftigen werden eher stärker noch als unproduktiv und kostenträchtig diskreditiert. Die Altersfeindlichkeit der Gesellschaft drängt diese Menschen an den äußersten Rand der Gesellschaft. Das ist eine sehr ungute Entwicklung.

Van Dyk: Zumal die Verpflichtung zur Selbstoptimierung des Körpers in den Köpfen fest verankert ist. Es zieht sich durch alle Interviews, dass man selbst für seine Gesundheit verantwortlich ist und sich geistig und körperlich fit halten muss. Wer krank oder gebrechlich wird, hat zu wenig für sich getan. Lebenswege, Schicksal oder Zufall spielen dabei keine Rolle mehr.

ver.di publik: "Alter" wird immer als homogenes Phänomen dargestellt...

Lessenich: "Die Alten" gibt es aber nicht, das ist eine Fake-Figur, die suggeriert, es gebe keine Unterschiede. Die "Generation 60+" ist nicht homogen, keine Bevölkerungsgruppe ist heterogener. Sie teilt vor allen Dingen den Rentenbezug.

ver.di publik: Und die Renten sind ja auch sehr unterschiedlich?

Lessenich: In kaum einem vergleichbaren Land ist das Einkommen der Rentenbezieher so gestreut wie in Deutschland, und die Streuung verstärkt sich. Prekäre Beschäftigung, unterbrochene Erwerbsbiografien, Niedriglöhne und faktische Rentenkürzungen: Altersarmut wird das Drama der nächsten Jahrzehnte sein. Leider verzichten weite Teile der soziawissenschaftlichen Altersforschung darauf, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen das Leben im Ruhestand stattfindet und stattfinden wird, zu berücksichtigen und spielen damit faktisch der Neoliberalisierung des Alters in die Hände.

ver.di publik: Haben Sie angesichts der drohenden Altersarmut Hinweise auf einen "Krieg der Generationen" gefunden?

Van Dyk: Wir haben keinerlei Hinweise dafür gefunden. Eher erklären sich die Alten mit den Jungen solidarisch, die sich mit Praktika und befristeten Verträgen durchschlagen müssen. Die intergenerationelle Ungleichheit ist doch nicht das Ergebnis des sogenannten demografischen Wandels, sondern eines veränderten Erwerbslebens und der herrschenden Umverteilungspolitik.


"Diese permanenten Aufrufe für das Ehrenamt. Unter dem Gesichtspunkt: Sonst macht es ja keiner, weil der Staat sich ja rauszieht. Also ich fühle mich nicht verpflichtet, den Staat zu ersetzen. Er hat nicht für mich permanent gearbeitet, damit ich es immer gut hatte, sondern ich habe das ganze Leben gearbeitet, damit ich es gut hatte." Herr Liebig


"Man hat ja von der Gesellschaft auch einiges bekommen. Insofern find ich das vollkommen richtig, dass man sich in Zukunft noch stärker als heute einbringen und Verantwortung übernehmen soll." Herr Schmied


"Ich lasse mich nicht mehr von Terminen hetzen. Ich mache nur noch das, was ich will, nichts anderes." Frau Schneider


"Ich würde es eher als Aktivitätszustand bezeichnen denn als Ruhezustand." Herr Lange


"Also raus, was tun. Das muss sein." Herr Pfarr


"Früher blieb man halt zu Hause und hat seinen Garten gepflegt, und das war dann der Ruhestand. Und heute macht man es so wie die Nachbarin meiner Mutter. Man versucht ständig wegzufahren, in die Mongolei - und dann die Freunde in Berlin und dann die in Hamburg und dann die in Frankfurt besuchen – und dann nach Vietnam." Frau Bauer


"Kind krank, muss die Oma machen. Ich sag mal, auf der einen Seite können das die Nachkommen in Anspruch nehmen. Und die Alten machen das. Das ging aber bei uns früher so nicht. Es wird auch ein Teil der Dienstleistungen solchen Leuten einfach zugemutet. Frau Ruthe


"Verantwortung zu übernehmen, bedeutet doch letztendlich hier sicherlich: länger arbeiten, bis zum Gehtnichtmehr, guter Rentner sein, 65 werden und umfallen." Herr Fichte


ALLE ZITATE SIND DEM BUCH LEBEN IM RUHESTAND ENTNOMMEN, SIEHE KASTEN

Die Studie

Das Buch Leben im Ruhestand - Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft ist das Ergebnis eines fünfjährigen Forschungsprojektes der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, das den Wandel des politisch-medialen Altersbildes untersucht. Projektleiter waren Professor Dr. Stephan Lessenich an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften und Dr. Silke van Dyk, Akademische Rätin im Arbeitsbereich Gesellschaftsvergleich und sozialer Wandel. Mitarbeiterinnen waren Tina Denninger, Akademische Rätin an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, und Anna Richter, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel. Unter anderem analysierten die Soziolog/innen wichtige Zeitungen und Zeitschriften von 1983 bis 2008, Partei- und Wahlprogramme und die Altenberichte der Bundesregierungen. Kernstück des Bandes sind die ausführlichen Interviews mit 55 "jungen Alten" der Jahrgänge 1938 bis 1950 aus Jena und Erlangen.

Das Buch ist 2014 im Bielefelder transcript-Verlag erschienen, hat 457 Seiten und kostet 29,99 €. Es ist auch als E-Book für 26,99 € erhältlich.