Herbert Weisbrod-Frey

ver.di publik - Was macht man, wenn ein Angehöriger zum Pflegefall wird?

Herbert Weisbrod-Frey - Es hängt davon ab, wie die Pflegebedürftigkeit eintritt. Manchmal geht es langsam, sodass man sich nach und nach Hilfen im Haushalt organisieren muss. Der Klassiker aber ist, dass jemand stürzt, im Krankenhaus behandelt wird und sich zu Hause aber nicht mehr selbst versorgen kann. Dann muss relativ schnell Pflege organisiert werden. Da sehen wir, dass die Beratung, die man in diesem Fall eigentlich bräuchte, oft gar nicht da ist. Wie dicht die Beratungsnetze, meist mit Pflegestützpunkten, sind, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich.

ver.di publik - Gibt es einen Tipp für eine zentrale Stelle, an die man sich wenden kann?

Weisbrod-Frey - Die Krankenkassen, die ja gleichzeitig auch Pflegekassen sind, helfen häufig mit, Ansprechpartner zu finden. Ansonsten kann man sich an die Kommune oder den Kreis wenden, die die Stellen nennen, an denen es Pflegeberatung gibt.

Dietmar Erdmeier

Dietmar Erdmeier - Ist der Pflegebedürftige im Krankenhaus, kann ich mich dort auch an den Sozialen Dienst im Krankenhaus in Kooperation mit meiner Pflegekasse wenden.

ver.di publik - Wenn ich feststelle, dass ich die Pflege zu Hause alleine nicht bewältigen kann, gibt es dann genügend Hilfsangebote?

Weisbrod-Frey - Viele haben den Wunsch, zu Hause zu bleiben. Dafür bietet die Pflegeversicherung eine Reihe von Leistungen. Auch das Netz an ambulanten Diensten ist mittlerweile sehr dicht. Meistens ist es aber so, dass es zu Hause nicht ohne eine Eigenleistung aus der Familie geht.

ver.di publik - Ab wann kann ich auf Hilfe zugreifen?

Erdmeier - Um Leistungen von der Pflegeversicherung zu bekommen, muss man in der Pflegestufe 1 einen Hilfebedarf in der Grundpflege von 90 Minuten haben. Dabei geht es in erster Linie um körperliche Bedürftigkeit, ums Kämmen, Anziehen oder Waschen. Diejenigen, die dement sind, haben keinen großen Bedarf an Grundpflege, aber dennoch einen hohen Betreuungsbedarf. Den müssen unter den heutigen Bedingungen die Angehörigen sicherstellen. Das kann sich nur durch einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ändern.

ver.di publik - An dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff wird ja nun schon seit 2006 gearbeitet...

Weisbrod-Frey - Außer Berichten von Beiräten hat sich seither nicht viel getan. 2012 hat ver.di mit anderen Organisationen das Bündnis "Gute Pflege" gegründet. Eines unserer Hauptanliegen war, vor der Bundestagswahl im Herbst 2013 noch einmal deutlich zu machen, dass der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt werden muss. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff soll ab 1. Januar 2017 in die Praxis umgesetzt werden. Das heißt, es geht jetzt ins Gesetzgebungsverfahren.

Erdmeier - Aber man muss auch schauen, wie der neue Begriff im Gesetz umgesetzt wird.

ver.di publik - Werden sich dadurch die Leistungen verbessern?

Weisbrod-Frey - Sicherlich wird es verbesserte Leistungen geben, aber das Grundproblem ist die Finanzierung dieser Leistungen. Es ist ja bisher schon so, dass ein Teil der Leistungen von den Pflegebedürftigen bzw. ihren Angehörigen bezahlt werden muss. Wenn der Leistungsumfang steigt, werden auch die Zuzahlungen steigen müssen. Daher ist ver.di schon vor zwei Jahren dazu übergegangen, die Pflegevollversicherung stärker in der Öffentlichkeit zu diskutieren.

ver.di publik - Viele Menschen haben Angst, dass sie sich ihre Pflege gar nicht leisten können, dass auf ihre Angehörigen hohe Kosten zukommen. Muss sich nicht auch an der Finanzierung von Pflege etwas ändern?

Erdmeier - Wenn man die Leistungen einer Pflegevollversicherung hätte, bräuchte man die Angehörigen nicht zu belasten. Viele Angehörige pflegen zwar gerne und diese emotional wichtige Unterstützung schließt eine Vollversicherung ja auch nicht aus. Aber die Angst, auf einmal in finanzielle Abhängigkeit geraten zu können, fiele dann weg.

ver.di publik - Nach einem ver.di-Gutachten müsste der Beitragssatz um 1,3 Prozentpunkte steigen für die gesetzliche Pflegevollversicherung. Würde eine solche Erhöhung akzeptiert?

Weisbrod-Frey - Wir hatten zum 1. Januar eine Beitragserhöhung in der Pflegeversicherung. Erhöhungen werden eigentlich immer sehr kritisch gesehen, aber jetzt hat es überhaupt keinen Widerstand gegeben. Ich glaube, der Bedarf an Pflege ist einfach größer als der Bedarf, etwas einzusparen.

Erdmeier - Nach einer aktuellen Umfrage sind 74 Prozent der Befragten bereit, mehr zu zahlen, wenn dafür die Leistungen der Pflege gesichert sind. Das ist ein ganz klarer politischer Auftrag.

Interview: Heike Langenberg

Mehr zur Pflegevollversicherung unter https://gesundheitspolitik.verdi.de, Unterpunkt "Gute Pflege"