Zwei volle Tage: 264 Anträge, Wahlen, Erfahrungsaustausch und der Blick auf die Perspektive Arbeitswelt

Der neue hessische Landesvorstand

Es ist Freitag, der 13. März 2015: Gespannt macht sich Yetkin Zengin auf den Weg ins Tagungszentrum der Lufthansa nach Seeheim-Jugenheim. Dort berät für zwei Tage die hessische Landesbezirkskonferenz der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Zengin nimmt zum ersten Mal teil. Der 29-Jährige arbeitet beim Frankfurter Entsorgungscentrum, FES, im Bereich Marketing und Öffentlichkeitsarbeit. Schon so manche Gewerkschaftssitzung hat der Vertrauensleutesprecher miterlebt, aber diese landesweite Konferenz mit 119 Delegierten ist für ihn "komplett neu, richtig pompös".

Über den Tellerrand hinaus

Die Antragsberatung ist für Zengin sehr spannend. Es kommt eines seiner wichtigen Anliegen zur Sprache: Die Arbeit der Vertrauensleute soll während der Arbeitszeit stattfinden können; dafür muss eine Arbeitszeitregelung her, festgelegt in einem Tarifvertrag. Durch die Annahme des entsprechenden Antrags spürt der 29-Jährige gewerkschaftlichen Rückenwind und den Ansporn, mehr Mitglieder zu werben. Es gefällt ihm aber auch, dass die Konferenz über den engeren gewerkschaftlichen Tellerrand hinausblickt. Das Thema Migration liegt Yetkin Zengin am Herzen, ebenso die kritische Auseinandersetzung mit rassistischen Gruppierungen. Er stellt fest: ver.di schaut nicht weg - das ist ein "schönes Erlebnis", sagt Zengin.

Steffi Roß-Stabernack hat 27 Jahre Berufserfahrung als Altenpflegerin. Sie arbeitet auch als Betriebsrätin und ist zu 70 Prozent dafür freigestellt. Persönlich fühlt sie sich von der Konferenz bewegt, auch weil sie die Möglichkeit hat, viele Gespräche über ihren Fachbereich hinaus zu führen. In den Wandelgängen und zwischen den Stuhlreihen findet ein eifriger Austausch statt. Ein wichtiger Austausch. Da mag es die Konferenzleitung milder stimmen, wenn sie immer wieder mahnend die Stimme erheben muss, weil sich der geplante Ablauf verzögert. Denn Kollegen und Kolleginnen wie Steffi Roß-Stabernack fassen im Gespräch neuen Mut. Sie sagt: "Nicht nur ich muss jeden Tag kämpfen. Man spürt einen Zusammenhalt." Deshalb hat sie sich auch in den Gewerkschaftsrat wählen lassen.

Mindestlohn reicht nicht

Zwei Schwerpunkte sind für die Kollegin zentral. Zum einen geht es um das Gesundheitswesen. Nach Auffassung der Betriebsrätin agiert man hier weit weg von den Patienten und auch von den Beschäftigten. Und besonders die Altenpflege brauche eine Lobby, denn die Arbeit dort sei sehr anspruchsvoll. Ein weiterer Schwerpunkt liegt für sie beim Mindestlohn. Nach ihrer Auffassung ist das Gesetz nicht ausreichend. Sie weiß aber, dass es noch einiger Anstrengung bedarf, selbst das Unvollkommene zur selbstverständlichen Realität werden zu lassen: "Die Schlacht ist aber noch nicht zu Ende."

Zu den Höhepunkten der Konferenz zählt sicherlich die Rede des ver.di-Bundesvorsitzenden. Frank Bsirske schlägt den kompletten Bogen der gewerkschaftlichen Aufgaben für die nächste Zukunft - von Anforderungen an den Bundestag bis zu den aktuellen Tarifrunden. Den gesetzlichen Mindestlohn nennt er eine historische Errungenschaft der Gewerkschaften. Nun nagen die Arbeitgeber an allen seinen Ecken und Enden. Aber, so Bsirske, das dürfen die Gewerkschaften nicht zulassen. Wenn Mindestlohn etwas zu tun hat mit Arbeits- und Lebenswürde, darf es keine Ausnahmen geben. Mittlerweile sind 86 Prozent der Bevölkerung dafür. Und auch das muss immer wieder betont werden: Es geht hier um Fragen der gesellschaftlichen Moral. Und da muss genau hingeschaut werden. Auch wenn es den Arbeitgebern nicht passt.

Tariffreiheit ist unteilbar

Deutlich sind auch Bsirskes Worte zum sogenannten Tarifeinheitsgesetz. Kurzsichtig sei, sagt Bsirske, wer denke, da würden nur die kleinen Branchenhasardeure gebändigt. Weit gefehlt: Es geht um nicht weniger als die Einschränkung des Streikrechts. Man schlägt die Kleinen und zielt auf die Großen. Tariffreiheit ist unteilbar.

Die große Herausforderung für die Gewerkschaften, so der überzeugend wiedergewählte Landesbezirksleiter Jürgen Bothner, ist die Digitalisierung, die elektronisch gesteuerte Fertigung und Vernetzung sowie die damit verbundene Veränderung der Arbeitswelt. Nach der Dampfmaschine, dem Fließband, dem Computereinsatz folgt nun die Periode 4.0. Die Auseinandersetzung damit wird ver.di in den nächsten Jahren beschäftigen. Hier ist großer Gestaltungsbedarf. Aber auch vor der Haustür brennt es. Man denke nur, welche "Gewalt des privaten Eigentums" bei Amazon entfaltet wird. Viele Baustellen verlangen einen langen Atem. Mit dem neu gewählten Landesvorstand dürfte das gelingen.