Guillaume Paoli ist freier Autor und Publizist

Kaum war das Blut der Terroropfer von Paris getrocknet, erklärten Vertreter des französischen Arbeitgeberverbands, der Zeitpunkt sei günstig, das neue Arbeitsrecht durchzusetzen, das sie seit Jahren verlangten. Von traumatisierten Bürgern, so das Kalkül, würde wohl keine Opposition kommen. Diese Schock-Strategie haben sich der französische Staatspräsident Hollande und sein Premierminister Valls zu eigen gemacht. Dem infolge der Anschläge ausgerufenen Notstand fügten sie einen "wirtschaftlichen Notstand" hinzu. Wobei ein kleiner Unterschied zu bemerken wäre: Im Kampf gegen den Terror wird die individuelle Freiheit der angeblich verstärkten Sicherheit geopfert. Anders herum im Kampf um die Arbeitsgesetze. Da wird die Beschäftigungssicherheit weiter abgebaut, um Arbeitgebern mehr Freiheit zu gönnen.

Das bestehende Arbeitsgesetzbuch, so der Tenor, sei viel zu dick und müsse dringend "vereinfacht" werden - nach dem in der Tat simplizistischen Prinzip: Unternehmen, damit sie wieder einstellen, muss es leichter gemacht werden, Beschäftigte zu entlassen. Entsprechend zusammengeschustert wirkt der Gesetzesentwurf. Erklärt sich eine Firma in temporären Schwierigkeiten, wird der Kündigungsschutz aufgehoben. Erweisen sich die Kündigungen als unrechtmäßig, fallen die Schadensersatzansprüche der Entlassenen deutlich geringer aus als bisher. Die 35-Stunden-Woche mag auf dem Papier bestehen bleiben, sie ist ohnehin eine Fiktion, die nur mit Überstunden aufrechterhalten wird. Diese sollen fortan schlechter bezahlt werden. Doch sind Fälle vorgesehen, in denen ein Betrieb eine 60-Stunden-Woche bzw. einen 12-Stunden-Tag einführen darf. Willkommen im 19. Jahrhundert! Das geplante neue Arbeitsrecht ist eben ein Recht der "Sonderfälle". Insofern ist es tatsächlich Teil jener Politik des Ausnahmezustands, die in Frankreich zur Regel geworden ist. Vor allem soll über den Sonderfall nicht mehr auf Branchen-, sondern auf Betriebsebene entschieden werden. Das Prinzip der Gleichheit vorm Gesetz wird durch variable Geometrie ersetzt, die von den Kräfteverhältnissen an jedem einzelnen Standort bestimmt wird. Und diese sind selten auf Seiten der Beschäftigten.

Wieder übernehmen Sozialdemokraten die Aufgabe, das neoliberale Drehbuch umzusetzen. Vorbild der Hollande-Regierung ist die Agenda 2010. Doch im Gegensatz zu Deutschland scheint in Frankreich die Überzeugung noch weit verbreitet zu sein - und sie hat sich auch in den letzten Jahrzehnten mehrfach bewährt: Ein als illegitim empfundenes Gesetz kann immer noch durch die Straße gekippt werden. Sobald das sogenannte Reformvorhaben bekanntgegeben worden war, unterschrieben über eine Million Menschen eine Online-Petition dagegen. Seitdem mehren sich Riesendemonstrationen, Streiks und Blockaden - worüber deutsche Medien nur sehr spärlich berichten. In vorderster Reihe steht die so oft für unpolitisch erklärte Jugend. Die selbst für Frankreich ungewöhnliche Polizeigewalt gegen protestierende Schülerinnen und Schüler hat für Eskalation gesorgt. Noch vor wenigen Wochen ein Ort der Volkstrauer, ist der Pariser Platz der Republik nach Occupy-Vorbild zur Stätte einer permanenten Redeveranstaltung geworden. Und die Bewegung beschränkt sich nicht auf die Hauptstadt, in dutzenden Städten, bis in die fernen Übersee- Departements, herrscht täglich Aufruhr.

Und die Gewerkschaften? Die regierungsnahe CFDT bemüht sich, mit kleinen Korrekturen das Gesetz durchgehen zu lassen, wobei mehrere ihrer Sektionen sich dem Protest angeschlossen haben. Die CGT, FO und SUD bestehen auf kompletten Widerruf, gleichzeitig versuchend, den Aufstand in reguläre Bahnen zu lenken. Doch offenbar ist das Gesetz bloß der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Generell wird gegen jahrelange Sparpolitik und Prekarisierung protestiert, vor allem aber: gegen die finale Preisgabe politischer Alternativen. Die Sozialistische Partei ist implodiert und wird sich voraussichtlich nie wieder davon erholen. Links von ihr schafft es keine der konkurrierenden Gruppen, den Dissens zu bündeln. Die bürgerliche Opposition, innerlich zerstritten, kann nur dem Vorhaben der Regierung zustimmen, eine Premiere in einem Land, das keine große Koalition kennt. Und mit der Rückkehr der sozialen Frage verstummt Madame Le Pens Nationale Front. Entgegen ihrer "Antisystem"-Parolen sind Rechtspopulisten vollkommen systemkonform, wenn es um Arbeiterrechte geht. Ob das Gesetz schließlich verabschiedet wird oder nicht, es ist keine Rückkehr zur Normalität zu erwarten. Entweder versinkt das Land in noch mehr Desillusionierung und mehr Verdrossenheit. Oder es entsteht etwas Neues.

Ein als illegitim empfundenes Gesetz kann immer noch durch die Straße gekippt werden