"Die Menschen sollten von ihrer Rente leben können"

"Armut ist weiblich" - diese plakative Aussage ist derzeit von Statistikern häufiger zu hören. "Uns geht es doch gut", propagiert dagegen die Wirtschaft. "Stopp! Es geht uns gut, aber längst nicht allen", sagt Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbandes Deutschland (SoVD). Denn Rentner, vor allem Frauen, aber auch Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose sind die Verlierer in unserer Gesellschaft. ver.di publik sprach mit Adolf Bauer.

Adolf Bauer

ver.di publik - Wie geht es heute den Rentnerinnen und Rentnern?

Adolf Bauer - Deutlich schlechter als noch vor zehn Jahren. Die Durchschnittsrente beträgt heute unter 1.000 Euro. Und niemand kann bei dem permanent sinkenden Rentenniveau, das bis 2030 auf 43 Prozent fallen soll, nur annähernd seinen Lebensstandard halten. Hinzu kommen steigende Krankenkassenbeiträge, die von Privatversicherten im Alter kaum noch zu tragen sind. Für die vielen gesetzlich Krankenversicherten steigen die Zusatzbeiträge, auf denen sie allein sitzenbleiben.

ver.di publik - Sinkendes Rentenniveau: Haben Sie ein Rechenbeispiel?

Bauer - Ja. Herr A erhält mit 65 nach 45 Arbeitsjahren zurzeit eine Regelaltersrente von knapp 1.000 Euro. Herr B bekommt ab 2030 erst mit 67 Jahren eine Rente von nur 865 Euro, also 13,5 Prozent weniger. Dabei hat B in gleicher Höhe wie A in die Rentenversicherung eingezahlt. Würde jemand 2030 mit 63 vorzeitig in die Rente gehen, dann müsste er noch einen Abschlag von 14,4 Prozent in Kauf nehmen und würde nur noch 740 Euro monatlich erhalten.

ver.di publik - Wurde das Renteneintrittsalter nicht gelockert?

Bauer - Man muss 45 Beitragsjahre nachweisen, um früher als mit 65 abschlagsfrei in Rente gehen zu können. Das ist zwar ein richtiger Schritt, doch eher ein Tropfen auf den heißen Stein. Denn bundesweit gehen schätzungsweise nur 50.000 bis 60.000 Menschen in Frührente, weil die meisten die 45 Jahre gar nicht durchhalten. Vor allem Frauen können durch Kindererziehung diese Vorgabe kaum schaffen.

ver.di publik - Ist die Altersarmut also doch weiblich?

Bauer - Leider. Frauen liegen im Schnitt noch unter den 1.000 Euro, durch schlechtere Bezahlung oder familiäre Ausfallzeiten. Wenn Sie verwitwet sind oder allein leben, wird das bei den meisten existenzgefährdend. 512.000 Rentner, zumeist Frauen, waren 2014 auf die steuerfinanzierte Grundsicherung angewiesen. 2003 lag die Zahl noch bei 258.000. Den monatlichen Grundsicherungssatz von 404 Euro für eine Einzelperson empfinden viele als ungerecht: Denn jemand, der Jahrzehnte gearbeitet hat, bekommt genauso viel wie ein Grundsicherungsempfänger, der möglichweise nie eingezahlt hat. Der gleiche Satz gilt auch für Langzeitarbeitslose.

ver.di publik - Ist das Rentensystem also gescheitert?

Bauer - Das Drei-Säulen-System, das auf gesetzlicher Rentenversicherung, betrieblicher und privater Altersvorsorge basiert, ist gescheitert. Das muss man so drastisch sagen. Über Jahre hat die Politik das gesetzliche Modell geschwächt, durch Niveauabsenkung und Kürzungsfaktoren in der Rentenformel. Es gäbe nur einen Weg aus dem Desaster: Zur lohnbezogenen Rente zurückzukehren, die Beiträge für alle, ohne Ausnahme oder Deckelung, von derzeit 18,7 langsam wieder anzuheben.

ver.di publik - Was fordert der SoVD von der Politik?

Bauer - Wir fordern, die Rente mit 67 abzuschaffen und die Senkung des Rentenniveaus zu stoppen. Wir fordern Sonderregelungen für Frauen, die 45 Jahre Wartezeit nicht erfüllen - zum Beispiel einen nicht auf die Grundsicherung anzurechnenden Freibetrag. Außerdem muss der Niedriglohnsektor ausgetrocknet werden. Wie in vielen anderen Ländern Europas sollten die Menschen von ihrer Rente leben können. Anderenfalls wird die Politikverdrossenheit immer noch größer, und die letzten Wahlergebnisse werden keine Ausnahme bleiben.

Interview: Sybille Nobel-Sagolla