Christian Mahieux

Christian Mahieux vom französischen Gewerkschaftsverband SUD - Solidaires hat im Gewerkschaftshaus auf Einladung des Ortsvereins des Fachbereichs Medien und DIDF über die Protestbewegung gegen die umstrittenen neuen Arbeitsgesetze in Frankreich gesprochen. Ausgefallene Züge, Versorgungsprobleme an Tankstellen, Zusammenstöße am Rande von Demonstrationen: Seit Wochen prägt der Widerstand den politischen Alltag in Frankreich. Trotz anhaltender Proteste der Gewerkschaften will Präsident François Hollande die sogenannte Arbeitsmarktreform zu einem Abschluss bringen. "Ich bleibe hart, weil ich denke, dass es eine gute Reform ist", sagt er.

ver.di publik - Wie bewertest du den aktuellen Stand, entsteht ein sozialer Block für einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel?

CHRISTIAN MAHIEUX - Mittlerweile haben wir seit Monaten eine über ganz Frankreich anhaltende soziale Bewegung. Sie drückt auf jeden Fall ein großes Bedürfnis der Menschen nach einer grundlegenden Veränderung aus. Ungeachtet des defensiven Charakters, weil sie sich gegen ein Projekt der Regierung, das Loi Travail, richtet, gibt es einerseits die Streikbewegungen, die teilweise in den verschiedenen Branchen über Wochen angehalten haben, wie beispielsweise in den Raffinerien, aber auch bei der Bahn. Es gibt aber auch alltägliche Begegnungen, weil die Leute regelmäßig zusammenkommen. Natürlich kommen Fragen nach gesellschaftlichen Veränderungen auf, nach Gerechtigkeit, nach der Verteilung der Reichtümer, die dort existieren.

ver.di publik - Schaut man auf die Medien, so entsteht der Eindruck, als ob Streiks und Demonstrationen in Frankreich zum Alltag gehören. Stimmt das?

MAHIEUX - Es ist uns gelungen, in vielen verschiedenen Branchen Streiks, aber auch Demonstrationen loszutreten. Was uns bislang nicht gelang, ist, diese Streiks übergreifend zu einem Generalstreik zusammenzuführen. Wobei es uns nicht darum geht, einen Streik nur um des Streiks willen zu machen, sondern natürlich hat jeder Streik auch immer damit zu tun, wie die Kräfteverhältnisse beschaffen sind und welche Möglichkeiten es gibt zu agieren. Aktuell ist es so, dass wir nur mit dem Mittel des Streiks in der Lage sind, zu protestieren.

ver.di publik - Bist du Fußballfan?

MAHIEUX - Ja, und als ich jung war, habe ich auch selber Fußball gespielt.

ver.di publik - Überschattet die Protestwelle das Fußballturnier?

MAHIEUX - Die Regierung hatte grundsätzlich sehr stark den Aspekt der EM forciert - diese Prognose ist übertrieben. Aus der Sichtweise von abhängig Beschäftigten, das ist mein Eindruck, konnten beide Ereignisse ohne Probleme nebeneinander bestehen: Einerseits die Leute, die ihre berechtigten Forderungen und Ängste haben und sie auf den Straßen zu Gehör bringen, und andererseits natürlich auch die EM, die stattfand und bei der man mitfieberte.

ver.di publik - Gibt es bereits ernst gemeinte politische Gegenangebote?

MAHIEUX - Es gibt von den Gewerkschaften seit Jahren ausgearbeitete Vorschläge für die Verbesserung des Code du travail, der in Frankreich die wesentlichen Arbeitsgesetze reguliert. Die Regierung schlägt aber ein Projekt vor, das keinerlei Kompromissmöglichkeiten erlaubt. Das Loi Travail, das neue Arbeitsrecht, treibt die Leute auf die Straße, weil es sie auf zwei Ebenen betrifft: Zum einen persönlich, indem es Kündigungsschutz, Überstundenbezahlung und Arbeitszeiten wesentlich verschlechtert; zum anderen kollektiv, weil es die gewohnte Rechtshierarchie völlig auf den Kopf stellt. Nach dem Gesetz sollen betriebliche Regelungen Tarifverträge und zum Teil auch Gesetze außer Kraft setzen können. Damit ist es nicht mehr möglich, dass große, gut organisierte Belegschaften auch die Bedingungen in kleineren Betrieben mit verbessern. Im Gegenteil: Die kleinen Betrie- be werden jetzt die großen unter Druck setzen. Wenn in Frankreich die Flächentarife unterlaufen werden, egal wieviel oder wie wenig, dann haben wir in Europa quasi kein anderes Land mehr, in dem Flächentarifverträge eine Bedeutung haben. Es geht hier um mehr als nur eine französische Frage.

ver.di publik - Was heißt das für uns?

MAHIEUX - Es ist erfreulich, dass wir über die Aktionen gegen das Gesetz dem rechten Rand Protestpotenzial abjagen konnten. Das ist ein Effekt, von dem wir noch lernen können. Natürlich ist der Front National damit nicht weg und nicht erledigt, aber zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung ist er nicht mehr präsent. Der zweite Punkt ist die Frage nach der internationalen Zusammenarbeit der Gewerkschaften. Und zwar auf einer sehr konkreten, direkten Ebene zwischen den Kollegen und Kolleginnen der einzelnen Branchen. Wir sollten als Gewerkschaften mehr international denken. Das kann sich nicht ausschließlich darin erschöpfen, auf oberster Vorstandsebene gemeinsame Beschlüsse zu fassen, sondern muss sich auch darin übersetzen, dass man auf der Ebene der Basisorganisationen eng miteinander zusammenarbeitet.

Rote Karte Loi Travail

Die französische - wie auch die belgische - Regierung will wegen, wie es heißt, der Wettbewerbsfähigkeit eine "Reform des Arbeitsrechts" durchsetzen, wie es bereits in Italien, Spanien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, im Vereinigten Königreich und in Deutschland seit 2004 geschehen ist. Hinter dieser modern klingenden Bezeichnung verbirgt sich aber in Wirklichkeit das Vorhaben, die Gesetze zum Schutz der abhängig Beschäftigten durch neue Regeln zum Vorteil der Unternehmer zu ersetzen: Abschaffung der für die Arbeitnehmer/innen günstigeren Bestimmungen, Verschärfung der Flexibilität, Verlängerung der Arbeitszeit und Kürzung der Reallöhne und der Freizeit; außerdem sollen die Gewerkschaften durch innerbetriebliche Abstimmungen umgangen werden, sodass die Beschäftigten mit der Drohung des Abbaus von Arbeitsplätzen erpresst werden können. In ganz Europa stehen die Menschen denjenigen zur Seite, die in Frankreich die Rücknahme des "Loi Travail" fordern.