Seit dem Putschversuch am 15. Juli läuft in der Türkei eine beispiellose "Säuberungswelle" gegen vermeintliche Putschisten und Menschen, die angeblich den Putsch unterstützt haben. Dazu gehören nicht nur Militärs, Polizisten und Geheimdienstler, bei denen eine Beteiligung am Putschversuch ja am ehesten angenommen werden kann; der öffentliche Dienst ist davon fast in Gänze betroffen.

Der gesamte Staatsapparat, so Präsident Erdogan, müsse vom "Virus der Putschisten gereinigt werden". Nach Darstellung der türkischen Regierung war der Putsch ein Komplott der islamischen Gülen-Bewegung, eine islamische Sekte, die angeblich seit Jahrzehnten den Staat unterwandert hat und insbesondere in der Justiz, in der Polizei und im Militär ihre Leute platziert haben soll. Doch von den knapp 80.000 Menschen, die mittlerweile von ihren Posten suspendiert oder entlassen worden sind, sind nur rund 10.000 Soldaten, darunter 146 Generäle und Admiräle, und noch einmal rund 10.000 Polizisten. Alle übrigen gehören nicht zum Sicherheitsapparat, können, wenn überhaupt, mit dem Putschversuch deshalb nur indirekt etwas zu tun gehabt haben.

Die Gülen-Bewegung die sich selbst auf türkisch "Hizmet", die Dienenden, nennt, war nach außen hin, also im sichtbaren Teil ihrer Aktivitäten, vor allem im Bildungsbereich engagiert. Der Aufstieg der Bewegung begann damit, dass sie für Kinder aus ärmeren islamischen Familien Nachhilfeschulen, sogenannte "Dershane" einrichteten, an denen die Kinder auf die Prüfungen für die Gymnasialstufe und die Universität vorbereitet wurden. Aus diesen Anfängen entstand ein ganzes Netz von Schulen, zunächst in der Türkei, bald aber auch im Ausland, das sich heute auf mehr als 130 Länder erstreckt. Nach den Schulen gründete die Gülen-Bewegung dann in der Türkei auch private Universitäten, von denen über das ganze Land verstreut 15 existierten. All diese Universitäten und Schulen, die angeblich oder tatsächlich zum unmittelbaren Einflussbereich der Sekte gehören, wurden bereits Ende Juli geschlossen. Deshalb sind mehr als die Hälfte der jetzt entlassenen Angestellten Mitarbeiter aus dem Bildungsbereich.

"Ich habe aus der Zeitung erfahren, dass meine Universität geschlossen wurde", berichtet ein Betroffener. Nicht nur der Universitätsleitung, sondern allen Dozenten und Lehrbeauftragten war es "ab sofort verboten, den Campus zu betreten". Der Mann, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte, sagt: "Wir sind arbeitslos, bekommen kein Gehalt mehr und haben auch keine Chance, an einer anderen Universität einen Job zu kriegen."

Für ausländische Dozenten gibt es noch ein zusätzliches Problem. Zumeist ist ihre Aufenthaltsgenehmigung an die Lehrtätigkeit gekoppelt. Verlieren sie ihren Job, verlieren sie auch die Aufenthaltsgenehmigung. Während einige Dozenten so zur Ausreise gezwungen sind, dürfen alle anderen entlassenen Lehrer und Professoren das Land nicht verlassen. Und das gilt nicht nur für die geschlossenen Universitäten. Jeder türkische Universitätsangestellte und Lehrer muss heutzutage eine Sondergenehmigung seines Rektors vorlegen, um die Grenze passieren zu dürfen.

Die Lage der Gewerkschaften

In dem zersplitterten System von Gewerkschaften in der Türkei sind insgesamt 29 kleinere Einzelgewerkschaften vom Verbot betroffen, denen man ebenfalls eine zu große Nähe zur Gülen-Bewegung vorwirft. Darunter sind kleine Gewerkschaften aus dem Erziehungs- und Bildungsbereich wie die "Aktiv Egitimciler Sendikasi" aus Kayseri, aber auch eine Minigewerkschaft aus dem Forstbereich wie die "Ufuk Tarim Orman Hizmet Sendikasi".

Nun kann es zwar sein, dass Universitäten, Schulen und selbst Gewerkschaften sich an einer religiösen Priorität ausrichten, trotzdem ist es natürlich mit rechtsstaatlichen Regeln in keiner Weise vereinbar, dass nun alle Menschen, die in einer Institution gearbeitet haben, die auch nur entfernt mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stand, jetzt wegen angeblicher Unterstützung des Putschversuchs auf die Straße gesetzt werden.

Auch ist bislang nicht geregelt, vor welchen Kommissionen und Gerichten die Betroffenen gegen ihre Entlassung Widerspruch einlegen können. So lange in der Türkei der Ausnahmezustand herrscht - und das wird noch bis mindestens Ende Oktober der Fall sein - haben sie keine Chance, zu den Vorwürfen angehört zu werden.

Jürgen Gottschlich