Erfurter "Restaurant des Herzens"

Von Henrik Müller

Darf der deutsche Staat einem Bezieher von Hartz-IV-Leistungen das gesetzlich festgelegte Existenzminimum für drei Monate kürzen oder komplett vorenthalten, um ihn auf diese Weise für sogenannte Pflichtverletzungen zu bestrafen, die ansonsten nicht einmal als Ordnungswidrigkeiten gelten und schon gar keine Straftaten sind? Diese Frage will demnächst das Bundesverfassungsgericht unter dem Aktenzeichen: 1 BvL 7 / 16 beantworten.

Geregelt sind solcherlei Sanktionen gegen arbeitslose Leistungsberechtigte im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Damit sei ein "ein strafrechtlicher Gedanke systemfremd ins Sozialrecht hineingepresst" worden, analysiert der Journalist und Jurist Heribert Prantl die Rechtslage. Und bei der Bestrafung von "Kunden" wegen zum Teil läppischer Verstöße gegen oft als Schikanen empfundene Auflagen der Jobcenter handelt es sich keineswegs um Einzelfälle. Im November sprach die Bild-Zeitung von mehr als zehn Millionen Vorgängen und der Streichung von zwei Milliarden Euro an Leistungen in zehn Jahren.

Würde des Menschen achten und schützen

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hält die einschlägigen Bestimmungen des SGB II für einen Verstoß gegen das Grundgesetz, in dessen Artikel 1 es heißt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Diese Auffassung geht hervor aus einer Stellungnahme, um die das Bundesverfassungsgericht den DGB - neben einem guten Dutzend anderer Organisationen und Institutionen - gebeten hat.

Anlass für diese Bitte ist eine erneute Richtervorlage des Sozialgerichts Gotha, das in den Hartz-IV-Strafen einen Verstoßgegen das Verfassungsgebot der Sozialstaatlichkeit sieht und von Karlsruhe eine Entscheidung darüber erwartet. Bereits in ihrer ersten, aus formalen Gründen abgewiesenen Vorlage hatten Richter/innen aus Thüringen deutlich gemacht, welche Folgen es haben kann, wenn Jobcenter Hartz-IV-Berechtigten das Existenzminimum vorenthalten: körperliche Mangelerscheinungen bis hin zum Tod, Depressionen bis hin zur Selbsttötung.

Mit ihrer Stellungnahme stützt die Rechtsabteilung des DGB das Anliegen des Sozialgerichts Gotha. Dabei lassen es die DGB-Juristen weder an Verständlichkeit und Klarheit noch an Plausibilität und Fundiertheit mangeln. Sie weisen darauf hin, dass aus Artikel 1 des Grundgesetzes "ein verfassungsrechtlicher Anspruch jedes Einzelnen auf ZurverfügungsteIlung eines menschenwürdigen Existenzminimums" hervorgehe, der sich nicht nur auf Nahrung, Unterkunft, Kleidung und ärztliche Versorgung erstrecke, sondern "auch auf die wirtschaftlichen Ressourcen, die erforderlich sind, um zu einem Mindestmaß zwischenmensch- liche Beziehungen zu pflegen und ebenfalls zu einem Mindestmaß am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilzuhaben".

Verfassung garantiert ein Existenzminimum

In ihrem weiteren Verlauf gerät die DGB-Argumentation zu einer Art verfassungsjuristischer Abrechnung: "Das Hartz-IV-System wurde eingeführt unter dem Schlagwort ‚Fördern und Fordern‘, war aber von Anfang an geprägt von einem deutlichen Übergewicht des Forderns." Die Sanktionsvorschriften legten dabei den Schluss nahe, Langzeitarbeitslosigkeit habe ihre primäre Ursache im Verhalten der Betroffenen. Damit werde, so die DGB-Rechtsabteilung, die gesellschaftliche Verantwortung für den Arbeitsmarkt "denjenigen aufgebürdet, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind". Anstelle des herrschenden Sanktionsregimes nach dem SGB II fordert der DGB positive Anreize für die Aufnahme von Beschäftigung oder Weiterbildungsmaßnahmen.

Im Internet ist die DGB-Stellungnahme unter dem Link https://tinyurl.com/ybpwsmhw auf den Webseiten des Online-Informationsdienstes Labournet zu finden.