Schon eine Million Euro spendeten die Franzosen in die Streikkassen der Eisenbahner

Auch Arbeitskämpfe lassen sich optimieren. Seit dem 3. April proben die französischen Bahnbeschäftigten ein innovatives Ausstandkonzept namens „zwei von fünf“: 48 Stunden wird gestreikt, die nächsten drei Tage herrscht Normalbetrieb, dann wird die Arbeit für weitere 48 Stunden niedergelegt und so weiter, bis voraussichtlich Ende Juni. So haben sich die fünf Gewerkschaften CGT, UNSA, SUD, FO und CFDT auf eine lange Kraftprobe eingestellt. Sie wissen, dass die Macron-Regierung fest entschlossen ist, das zu schaffen, woran ihre Vorgänger gescheitert sind, nämlich die staatliche Bahngesellschaft SNCF nach deutschem Vorbild in eine Aktiengesellschaft zu verwandeln und den Sonderstatus der Eisenbahner abzuschaffen. Seit Jahren wettern Wirtschaftsliberale gegen die „Privilegien“ dieser Berufsgruppe, wobei ihre vertraglich garantierten Vorteile nicht so gewaltig sind: Die „Cheminots“ bekommen kaum mehr als den Durchschnittslohn, sie haben etwas günstigere Arbeitszeiten, etwas mehr Urlaub und werden früher pensioniert, zurzeit mit 57 beziehungsweise 52 Jahren bei den Lokführern. Nur eins zeichnet ihren Status wirklich aus: Sie sind so gut wie unkündbar. Die Jobsicherheit spiegelt sich in ihrer legendären Militanz wider, und genau diese Besonderheit soll jetzt abgeschafft werden.

Trotz aller Versuche der Medien, den Konflikt als egoistische Besitzstandswahrung zu diffamieren, trotz wiederholter Unannehmlichkeiten für die Millionen Pendler: Eine Mehrheit der Franzosen unterstützt die Aktion. Künstler und Intellektuelle haben sogar im Netz eine Spenden-Initiative organisiert, um die Streikkassen solidarisch zu füllen. Über eine Million Euro wurden gespendet. Die Privatisierung der Bahn lässt sich schwer als Fortschritt verkaufen. Bevorzugt werden die rentablen Hochgeschwindigkeitsverbindungen zwischen Großstädten, dafür sollen unzählige, wenig ertragreiche Kleinstrecken geschlossen werden, zum Nachteil der Bewohner und Betriebe in bereits strukturschwachen Regionen. Ihnen werden nur private Buslinien übrigbleiben, was nicht nur sozial ungerecht ist, sondern auch ökologisch absurd.

Auch Universitäten blockiert

Doch ist der Bahnstreik bloß die Speerspitze einer breiteren, wenngleich zerstreuten Bewegung zur „Rettung des öffentlichen Dienstes“, so hieß der erste einheitliche Aktionstag am 22. März, an dem Hunderttausende demonstrierten und streikten. In Frankreich ist „öffentlicher Dienst“ ein besonders emotional aufgeladener Begriff. Mit ihm wird die alte Forderung aus der Revolutionszeit assoziiert: Gemeinwohl muss über konkurrierende Privatinteressen gestellt werden. Mit dem „Präsidenten der Reichen“, so wird Macron in Frankreich gemeinhin genannt, setzt sich jener methodische Abbau von sozialen Errungenschaften fort, der vor 10 Jahren von Ex-Präsident Sarkozy eingeleitet worden war.

Im öffentlichen Dienst sollen 120.000 Stellen gestrichen werden, der Leistungslohn soll eingeführt, Beamte durch kündbare Vertragsangestellte ersetzt werden. Im diesjährigen Haushalt wird eine Milliarde Euro im Gesundheitssektor eingespart, obwohl in öffentlichen Krankenhäusern und noch mehr in Altenpflegeheimen Kapazitäten und Arbeitsverhältnisse bereits in desolatem Zustand sind. Dagegen hat das Pflegepersonal in letzter Zeit wiederholt gestreikt.

Auch Universitäten werden von Studierenden blockiert. Sie protestieren gegen eine weitere „Reform“, wonach der Zugang zum Studium durch die Bestimmung von „Kompetenzen“ eingeschränkt wird. Auch hier wird das Gleichheitsprinzip durch die Selektion der Privilegierten ersetzt.

Offensichtlich besteht die Strategie der Regierung darin, die Bürger mit möglichst vielen, gleichzeitigen Veränderungen zu überrumpeln, um effektive Reaktionen zu verhindern. Macron weiß sehr wohl, dass letztes Jahr lediglich 18 Prozent der Wahlberechtigten seinem tatsächlichen Programm zugestimmt hatten. Gewählt wurde er im zweiten Wahlgang allein deshalb, um Le Pen zu verhindern. Konsensfindung ist seine Stärke nicht. Er regiert monarchisch und lässt die Proteste an sich abprallen. Schließlich endete die große Bewegung gegen das Arbeitsgesetz vor zwei Jahren mit einer herbenNiederlage. Das ist auch der Grund, warum mit Ausnahme der Air France die Beschäftigte im Privatsektor von Arbeitsniederlegungen absehen. DieEinschnitte in ihre Rechte lassen ihnen dazu kaum Möglichkeit. Einzelforderungen haben also kaum eine Chance.

Allseits wird ein „Zusammenlauf aller Kämpfe“ herbeigesehnt. Im Mai fanden vier landesweite Großdemonstrationen statt. Zu der letzten davon, am 26. Mai, wurde zum ersten Mal seit Jahren von sämtlichen Gewerkschaften aufgerufen, zusammen mit ansonsten zerstrittenen linken Parteien und Kollektiven. Demonstriert wurde auch gegen die wachsende Repression. Kurz zuvor war einem jungen Demonstranten die Hand von einer Polizeigranate abgerissen worden. In Paris wurden hundert Gymnasiasten, die ihre Schule besetzen wollten, zwei Tage lang in Gewahrsam genommen. Selbst Jugendliche aus den benachteiligten Vorstädten schlossen sich an, auch das eine Premiere.

Mitunter sinkt der Vertrauensindex der Unternehmer, so eine jüngst veröffentlichte Studie: „Das Land bleibt weitgehend unempfänglich für die Veränderungen, die von Präsident und Arbeitgeber angeregt werden.“ Dennoch wird die generelle Unzufriedenheit von der Erkenntnis gedämpft, dass ein radikaler Kurswechsel momentan sehr unwahrscheinlich ist. Um bei der Bahn zu bleiben: Die Öffnung für den Wettbewerb ist nicht allein von Präsident Macron gewollt, sie wurde in einer EU-Richtlinie verordnet und steht in den Lissabon-Vertrag eingemeißelt. Also würde die Rettung des öffentlichen Dienstes französischer Prägung eine Neuverhandlung der EU-Verträge voraussetzen, und dafür fehlen die politischen Kräfte.

Eine bittere Ironie will, dass just zu dieser Zeit Gedenkfeiern anlässlich des Mais 1968, des größten Generalstreiks der Geschichte, von offizieller Seite gehalten werden. Auf Pariser Mauern ist oft das Graffito zu lesen: „Nicht gedenken, neu anfangen!“