Ausgabe 05/2018
Die auch Regenwürmer retten
Die auch Regenwürmer rettet
Hund, Patenschwein und Fan der Band „FeineSahneFischfilet“ – Bettina Rödig sitzt nur ungern tatenlos rum
Eigentlich hat Bettina Rödig eine Woche Urlaub. Sie könnte verreisen, am See abhängen oder am Strand. Aber das ist nicht ihre Art. Den sonnigen Nachmittag wird sie damit verbringen, eine Abendveranstaltung im Gewerkschaftshaus vorzubereiten. Thema: Wohnen in München, für junge Leute.
Alles, was sie dafür braucht, trägt sie im Laptop mit sich herum. Der ist übersät mit Stickern. Ein Antifasticker; Sticker gegen die AfD und die Nazis. „Come on Lenin, light my fire“ steht da. „A woman ́s place is in the revolution.“ Und in der Mitte ein Kampagnensticker der ver.di Jugend: „tarifdeluxe – weniger ist Wahnsinn“.
Auf ihrem T-Shirt steht: „Ohne Moos wohnungslos“. Ein Shirt der DGB Jugend. Groß nachdenken muss sie nicht darüber, was sie sagen wird. Sie redet frei, nach Stichworten. Hat über das Thema schon mal im Winter referiert, vor Auszubildenden der Telekom. Öffentlich aufzutreten, das fällt ihr nicht schwer. Anders vielleicht, wenn da Tausende vor ihr stehen. Aber auch das geht. Man muss es nur tun.
Wie 2016, Streikrede während der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst. Da stand sie vor 5.000 Leuten am Münchner Stachus und sollte klarmachen, warum die Forderungen der Auszubildenden nur gerecht sind. Sie spürte ihr Herz klopfen: „Ach du Scheiße, warum, ich kann das gar nicht!“ Sie fing an zu reden, es musste ja sein. Volle Stimme, strahlende Augen, ganz viel Präsenz. Und ihre Erfahrung war wie immer: „Ich kann das doch.“
Massives Helfersyndrom
Von Beruf ist die 26-Jährige Gesundheits- und Krankenpflegerin im Schwabinger Krankenhaus. Vollzeit, auf der Kleinkindpsychosomatik. Dass die Patienten noch immer oft Krankenschwester sagen: geschenkt. Sie ist trotzdem froh über die geänderte Berufsbezeichnung. „Das hat was mit beruflicher Emanzipation zu tun. Es zeigt, dass wir eine eigene Berufsgruppe sind, losgelöst von den Ärzten, genauso akademisch und emanzipiert.“
Anderen wäre eine 38,5-Stunden-Woche Verpflichtung genug. Sie dagegen arbeitet bestimmt fünfzehn weitere Stunden wöchentlich für die Gewerkschaft. „In der Pflege ist gewerkschaftliches Engagement absolut notwendig“, sagt sie. Schon ihre Mutter war aktive Gewerkschafterin. Von ihr hat Bettina Rödig gelernt, dass man seine Meinung sagen darf, und sich nicht einschüchtern lassen soll, egal, wer vor einem steht.
In den vergangenen zweieinhalb Jahren ist die Gewerkschaft für sie eine Art Ersatzfamilie geworden. Schon immer wollte sie die Welt ein bisschen besser machen. „Ich habe ein ganz massives Helfersyndrom“, sagt sie lachend. Als Kind habe sie Regenwürmer von der Straße gepflückt und ins Gras gesetzt, damit sie nicht zertreten würden.
Auch das Talent, offen auf andere zuzugehen, war immer da. In den Beruf ist sie eher zufällig hineingestolpert. Ihr freiwilliges soziales Jahr machte sie in einem Heilpädagogischen Zentrum im Münchner Stadtteil Hasenbergl. Sie sah in Schicksale hinein, die sie aufwühlten und auch nach der Arbeit nicht losließen.
Zwei erfahrene Heilpädagogen halfen ihr, alles nicht zu sehr an sich ranzulassen. Noch heute, sagt sie, sei für ihre Arbeit ein Satz von besonderer Bedeutung, den sie damals gelernt hat: „Man kann die Kinder nicht retten, aber man kann versuchen, ihre Zeit so gut wie möglich zu gestalten und ihnen vieles mitzugeben.“
Sie entschied sich, die Arbeit mit Kindern zu ihrem Beruf zu machen. Zur Heilerzieherinnenausbildung fehlte ihr das Abitur, Kinderpflegerin war ihr zu wenig, eine fünfjährige Ausbildung zur Erzieherin zu lang. So wurde sie Pflegerin. Lernte Kollegen kennen, die auf unterbesetzten Stationen ausbrannten, weil sie völlig überlastet waren. Die mehr leisten wollten, als sie konnten. Ruhezeiten wurden nicht eingehalten. Arbeitsrechtliche Verstöße waren an der Tagesordnung. Rassistische Sprüche fielen.
Den Menschen total nah
Weil Personal fehlte, ersetzten Anfänger wie sie immer wieder Vollzeitkräfte. Sie erinnert sich an ihre erste Zeit: „Wasch mal zehn Patienten, heißt es auf Station – da lernt man nichts.“ Man tut auch immer wieder Dinge, die man eigentlich nicht kann. Katheder legen, Magensonde, Spritzen. Ein Kollege, erzählt Bettina Rödig, schämt sich heute für das, was er am Anfang seiner Berufstätigkeit mal eben schnell gemacht hat. „Ihm war gar nicht bewusst, wie gefährlich das ist.“
Heute arbeitet sie in einem Team, das liebevoll und wertschätzend miteinander umgeht. Die Belastungen sind andere als etwa auf einer Intensivstation. In Bettina Rödigs Alltag geht es nicht um Leben und Tod. Aber einfach ist es auch auf einer Psychosomatik nicht.
Ihr Einsatz ist allerdings ungebrochen. „Es ist ein superschöner Beruf“, sagt sie, „man kommt den Menschen total nah. Aber das Fallpauschalensystem ist fatal. Menschen werden auf einen Kostenfaktor reduziert. Individuelle Pflege ist kaum noch möglich. Gesundheit verkommt zu Ware, das ist katastrophal!“ Überall werden Abstriche gemacht. „Mit empathischer Pflege hat das nichts mehr zu tun.“
Energie kommt von Solidarität
In der Gewerkschaft hat Bettina Rödig Menschen gefunden, die in die gleiche Richtung denken. „Man sitzt nicht zu Hause und ärgert sich, sondern entwickelt neue Ideen.“ Sie mag die Energie, die aus der Solidarität kommt. Und: Sie kämpft gern. Regelmäßig hat sie sich in den letzten Jahren bei ver.di schulen lassen. In Rhetorik, in Moderation, in den rechtlichen Grundlagen. „Es gibt immer noch etwas, worin man sich verbessern kann.“ Auch sie musste erst lernen, ihre Meinung so zu vertreten, dass nicht nackte Wut rüberkommt, sondern klare Überzeugung.
Wie vor ein paar Monaten, als sie sich auf einer Betriebsversammlung furchtbar aufregte über eine Bemerkung der Geschäftsführung. Trotzdem stand sie gefasst auf und interpretierte die Sätze, die gefallen waren, cool als „Schlag ins Gesicht aller Beschäftigten“.
Immer wieder wächst sie so über sich hinaus. „Die Förderung durch die Gewerkschaft holt einen aus den eigenen Grenzen raus.“
Die eigene Komfortzone verlassen
Inzwischen kann sie schon auf einige Erfolge zurückblicken. Wenn sie Auszubildenden im Einzelhandel klar machen kann, dass sie sich Unrecht nicht gefallen lassen müssen. Wenn die Friseurazubis in Deutschland endlich nach Tarif bezahlt werden. Wenn bei der Jugendstreikbeteiligung in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes Rekordzahlen vermeldet werden: Dann ist das alles auch ihr zu verdanken.
Logisch hat auch sie manchmal Phasen, in denen sie am liebsten hinschmeißen würde. „Aber dann gibt es genug Menschen, die mir klar machen: Es lohnt sich, weiterzumachen.“ Dass sie den Willen hat, die eigene Komfortzone zu verlassen, das unterscheidet sie von denen, die sich nicht engagieren. Aber sie will das nicht bewerten. „Vielleicht haben manche noch nicht die richtige Heimat gefunden, um sich auszuleben.“
Sie dagegen engagiert sich nebenbei noch ein bisschen im Tierschutz. Besucht so oft sie kann Oskar, ihr verschmustes Patenschwein auf dem Gnadenhof Aiderbichl. Sie mag die Band „FeineSahneFischfilet“ – und hat sich umso mehr geärgert, dass beim Konzert im Februar „einige Vollidioten das Konzertgedränge genutzt haben, um Frauen, sogar auch junge Mädchen anzugrabschen“, wie sie auf Facebook schreibt. Sie schreibt auch: „Gerade unter Linken, die Texte gegen Rassismus, Sexismus und Ausgrenzung mitgrölen, erwarte ich definitiv mehr!“ Auch, wenn ihr jemand bei der Gewerkschaft oder im Betriebsrat komisch kommt, pariert sie unerschrocken.
Und: Sie kann sich abgrenzen.
Kürzlich hat ihr jemand von „Die Linke“ vorgeschlagen, auf deren Liste zu kandidieren. Sie ist zwar links. Zu links, sagt sie, finden manche. Aber auf die Liste wollte sie nicht. Sie mochte nicht, dass es hieß: Die Linke bräuchte eine junge Frau. Klar: Sie ist blond und hübsch. Aber das soll für ihre Arbeit keine Rolle spielen. Nie würde sie, sagt sie, ihre Überzeugungen verraten für ein Amt.
Sowieso ist die Gewerkschaftsarbeit eigentlich völlig genug. „Man kann ja nicht alles abdecken.“ Und die Arbeit geht weiter: Demnächst kandidiert sie für den Vorsitz bei der ver.di-Landesbezirksjugend.