Das streitbare Leben der Paula Thiede 1870–1919

Text: Uwe Fuhrmann, Fotos: Renate Koßmann, Darstellerin: Isabell Senff

Links: „Bis tief in die Nacht hinein zu Hause in der engen Wohnung“, verfasst Paula Anschreiben an die Kolleg*innen Mitte: Harte und erfolgreiche Verhandlerin: Paula Thiede stärkte die Frauen und sorgte für einen Mindestlohn Rechts: Als Anlegerin arbeitete Paula im Buchdruck an der Schnellpresse. Das bedeutete mehr Lohn und mehr Freiheiten

Als Paula Thiede im März 1919 mit 49 Jahren starb, hielten ihre Weggefährt*innen sie angesichts ihrer Lebensleistung für „unvergeßlich“. Und doch erinnerte nach 1933 nur ein großes, altes Grab an dieses außergewöhnliche Leben. Selbst die Einweihung des Paula-Thiede-Ufers 2004 in Berlin änderte wenig an der ausbleibenden öffentlichen Erinnerung. Doch die wäre mehr als gerechtfertigt. Was Paula Thiede als proletarische Frau, geprüfte Mutter und kämpferische Gewerkschafterin erlebt und geleistet hat, ist in dieser Verknüpfung weithin einzigartig.

Pauline Philippine Auguste Berlin wird am 6. Januar 1870 geboren und wächst rund um den heutigen Kreuzberger Mehringplatz auf. Die Arbeiterfamilie – ihr Vater ist Tischler – wohnt am südlichen Rand des aufstrebenden Berliner Zeitungsviertels, dem wichtigsten Standort bedeutender Pressehäuser – damals Mosse, Ullstein und Scherl, heute taz und Springer.

Die Nähe zur Berliner Druckindustrie beeinflusst Paula Thiedes Leben entscheidend. Mit etwa 14 Jahren beginnt sie, als Anlegerin im Buchdruck zu arbeiten. Für ein junges proletarisches Mädchen gibt es durchaus Schlimmeres, denn anders als Heimarbeiterinnen oder Dienstmädchen hat Paula nach Feierabend gewisse soziale Freiheiten und bekommt einen höheren Lohn. Während der Arbeitszeit legt sie große Papierbögen in die sogenannten Schnellpressen ein. Unterlaufen Anlegerinnen bei ihrer monotonen Aufgabe Fehler, muss die Produktion unterbrochen werden, dennoch werden sie von den Unternehmern geschätzt. Aber um gesundheitliche Risiken scheren sich die Unternehmer, die „Prinzipale“, nicht: „Wenn ein Mädchen mit 16 Jahren bei uns auf die Maschine gestellt wird und 6 Jahre daran arbeitet, dann sind unsere Anlegerinnen gewöhnlich krank“, lassen sie noch 1907 ungerührt verlauten.

Paula bezieht schon bald in Berlin eine eigene Wohnung im heutigen Graefekiez und heiratet mit 19 Jahren im Oktober 1889 den zehn Jahre älteren Schriftsetzer Rudolf Fehlberg. Wenige Wochen später kommt ihr erstes Kind Emma zur Welt. Kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes erliegt ihr Ehemann einem „kurzem, aber schwerem Leiden“. Wie Rudolf Fehlberg erlebt nicht einmal die Hälfte der Berliner Buchdrucker den 40. Geburtstag – eine Folge des täglichen Umgangs mit zahlreichen giftigen Stoffen.

Hochschwanger und ohne Einkommen muss Paula Thiede 1891 „ihre Erwerbsarbeit wieder aufnehmen“ – bis am 2. Mai ihr zweites Kind zur Welt kommt. Die spätere Gewerkschaftsvorsitzende zählt nun zu den Ärmsten der Armen. Um Miete zu sparen, muss sie in einen feuchten Neubau in der unteren Chausseestraße umziehen. Unter diesen Umständen verstirbt ihr nur vier Monate altes Baby im August 1891 – bitterer Alltag in der Arbeiterschaft. Paula Thiede zieht nach Kreuzberg zurück und geht wieder an die Schnellpresse. Dort gerät sie unmittelbar in einen der größten Streiks, den das Kaiserreich bislang gesehen hat.

Streik – ein schäumender Wildbach

Denn ab Oktober 1891 führen die Buchdrucker einen hoffnungsvollen Kampf für den Neunstunden-Tag – eine „Arbeitseinstellung, die es im ganzen Weltenrund nicht gegeben“ hat, wie sie selbst schreiben. Wie ein „schäumender Wildbach“ breitet sich die Streikwelle aus, bis am 14. November schließlich 12.000 Buchdrucker im Streik stehen. Doch die Behörden beschlagnahmen die gewerkschaftseigenen Unterstützungskassen, und so muss der Streik im Januar 1892 trotz breiter Solidarität verloren gegeben werden.

Die Hilfsarbeiterinnen unterstützen den Streik ihrer höher qualifizierten männlichen Kollegen bis an den Rand ihrer organisatorischen Kräfte. Noch „unter dem letzten Schatten des Sozialistengesetzes“ hatten sich Anfang März 1890 etwa 450 Kolleginnen in einer Frauengewerkschaft organisiert. Doch nach dem verlorenen Streik bricht die Organisation zusammen. Der nötige Neubeginn des Berliner Vereins der Arbeiterinnen an Buchdruck-Schnellpressen wird auch zum Neubeginn für Paula Thiede. Sie wirft sich, gerade 22-jährig, aber bereits voller Lebenserfahrung, in den Kampf zur Verbesserung der Lage ihresgleichen. Trotz der Verantwortung für ihre dreijährige Tochter Emma setzt sie sich für den Wiederaufbau des Vereins ein. Der Arbeitsaufwand für die Leitung einer Gewerkschaft ist groß und auch Paula Thiede sitzt „bis tief in die Nacht hinein zu Hause in der engen Wohnung [...] und verfertigt handschriftlich Versammlungseinladungen, Anschreiben an die Kolleginnen usw., die selbstverständlich auch von den Vorstandsmitgliedern selber verteilt werden“ müssen. Eine nennenswerte Bezahlung erfolgt nicht. Es dauert nur wenige Wochen, dann übernimmt Paula am 4. März 1892 durch die Wahl zum Vorstandsmitglied auch formal Verantwortung, weitere zwei Jahre später wird sie Vorsitzende der Berliner Hilfsarbeiterinnen.

Jubliläumsausgabe der Verbandszeitschrift „Solidarität“ von 1915

Im nächsten großen Streik im Jahr 1896 ändern die Hilfsarbeiter*innen ihre Taktik. Paula Thiede erinnert sich später: „Nun begann ein Kampf von Druckerei zu Druckerei, bewilligte ein Prinzipal, dann gut, lehnte er ab, dann war keine Stunde später das gesamte Hilfspersonal auf dem Arbeitsnachweis [...] und bei Beendigung des Kampfes konnten die Berliner Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen feststellen, daß die Löhne von 1,50 bis 3 Mark pro Woche gestiegen waren.“ Der Streikbericht endet mit der lapidaren Feststellung: „Der Streik war ein Angriffsstreik und fiel zu Gunsten der Arbeiter aus.“ Auch die Buchdrucker sind erfolgreich und in den Druckereien gilt fortan der Neunstundentag.

Mindestlohn für Anlegerinnen

Im Jahr 1898 wird der reichsweite Verband der Buchdruckerei-Hilfsarbeiter und –Arbeiterinnen Deutschlands gegründet und mit Paula Thiede übernimmt eine Frau den Vorsitz dieser Gewerkschaft – soweit bekannt, weltweit zum ersten Mal. Doch die Entschädigung für die aufwändige Verbandsarbeit macht nur einen Bruchteil des Lohns einer Anlegerin aus. Im Oktober 1900 ist Paula Thiede dadurch gezwungen, den Vorsitz aufzugeben, um zum Familieneinkommen beizutragen. Mit ihrem zweiten Mann, dem Kellner Wilhelm Thiede, übernimmt sie eine Gaststätte im Berliner Zentrum („Gut gepflegte hiesige und fremde Biere ... Angenehmer Familien-Aufenthalt“). Da die Familie Thiede in der angeschlossenen Wohnung lebt, vereinfacht dies auch die Betreuung ihrer Tochter Emma, die einige Jahre zuvor vermutlich „am frühen Morgen in einem Asyl oder bei fremden Leuten den Tag über untergebracht, leider aber in vielen Fällen sich selbst überlassen“ werden musste, wie Paula Thiede allgemein mit Blick auf die Arbeiterkinder bedauert.

Der unfreiwillige Rückzug von Paula Thiede stört die Entwicklung der jungen Gewerkschaft, die Mitgliederzahl stagniert und einige örtliche Gliederungen lösen sich auf. Eine spürbare Erhöhung der Entschädigung ermöglicht es Paula Thiede Anfang 1902 dann, auf ihren Posten zurückzukehren. In den folgenden Jahren steigt die Mitgliederzahl bis auf 17.000 Personen, und die Gewerkschaft gewinnt enorm an Einfluss und Selbstbewusstsein. Die Position der Frauen wird innerhalb des Verbandes gestärkt, und in Berlin wird ein Mindestlohn für Anlegerinnen durchgesetzt.

Lange hieß die Maxime im Arbeitskampf: „Der Kleinkrieg ist für uns Hilfsarbeiter immer noch die altbewährte Taktik.“ Die Erfolge des „Kleinkriegs“ auf Betriebsebene sind so groß, dass die genervten Unternehmer den Hilfsarbeiter*innen 1906 einen Tarifvertrag anbieten. Die Berliner Mitgliedschaft vermutet jedoch, „dat se mit dem ganzen Tarifieren Uns jeheerich wollten Baribieren“.

Trotz der berechtigten Angst vor einem Betrug durch „Tarifieren“ ist zumindest der Zeitpunkt günstig, einen Tarifvertrag abzuschließen. Und Paula Thiede und ihre Kolle-g*innen erweisen sich als harte und erfolgreiche Verhandler*innen. In den „Allgemeinen Bedingungen für die Obliegenheiten, Arbeitszeit und Entlohnung des Hilfspersonals“ vom Dezember 1906 werden landesweite Rahmenbedingungen festgelegt, die auch von Hilfsarbeiter*innen jenseits der gewerkschaftlichen Hochburgen eingefordert werden können. Nur die Löhne werden weiterhin lokal ausgehandelt.

Für Paula Thiede sind die internationalen sozialistischen Frauenkonferenzen in Stuttgart (1907) und Kopenhagen (1910) weitere Höhepunkte ihres politischen Wirkens. In Kopenhagen wird der Antrag der deutschen Delegation (mit Paula Thiede, Clara Zetkin und anderen) für einen internationalen Frauentages zur „Eroberung des allgemeinen Frauenwahlrechts“ angenommen. Die Verbandszeitschrift der Buchdruckereihilfsarbeiter*innen, die „Solidarität“, mobilisiert mit nicht weniger als vier ausführlichen und kämpferischen Leitartikeln für diesen Tag. Für die bisherige Entrechtung der Frauen, so schreibt Paula Thiede darin, gibt es „keinen stichhaltigen Grund, keinen außer der Ausrede, daß die Frauen seit je rechtlos gewesen sind“, und sie endet mit der Forderung: „Gebt uns unsere Menschenrechte, gebt uns das Wahlrecht!“

Paulas letzter Triumph

In Berlin folgen am 19. März 1911 dem Ruf „Arbeiterinnen! Heraus zum Kampf!“ etwa 50.000 Teilnehmer*innen, die eine der etwa 40 Veranstaltungen besuchen. Paula Thiede spricht in einer großen Festhalle (bei „Ballschmieder‘s Kastanienwäldchen“) in der Nähe des Bahnhofs Gesundbrunnen. Die Veranstaltung ist mit weit über 2.000 Zuhörenden dermaßen überfüllt, dass die „kleine Minderheit“ der Männer in den Biergarten abgedrängt wird, denn an diesem Tag haben „die Frauen überall das Vorrecht“. Trotz der Überfüllung herrscht im Saal „eine Ruhe und Aufmerksamkeit, daß die Stimme der Rednerin klar und vernehmlich in den entferntesten Winkel“ dringt. Als Paula Thiede jedoch zur Auflehnung „gegen die bisherige Unterdrückung“ aufruft, findet das „lebhaftesten Widerhall“.

Den Ersten Weltkrieg übersteht die Gewerkschaft trotz der üblichen Schwierigkeiten, welche die Kriegswirtschaft und zahlreichen Eingezogenen mit sich bringen, ohne sich politisch besonders hervorzutun. Aber ihre Vorsitzende Paula Thiede erkrankt 1917 schwer. Der Verbandsvorstand verschwört sich im Juni 1918 zu einem letzten Versuch, das Leben ihrer Vorsitzenden zu retten. Er beschließt heimlich, ihr einen Sonderurlaub zu genehmigen und trotz klammer Verbandskassen 1.000 Mark für eine Kur bereitzustellen, die von Charité-Ärzten empfohlen worden ist. Doch die Krankheit (vermutlich Krebs) ist nicht mehr aufzuhalten. Immerhin ist der Todkranken ein letzter Triumph vergönnt:

„Zur Wahl für die Nationalversammlung am 19. Januar 1919 hat sie sich mit Hilfe ihrer ihr in aufopferungsvoller Liebe ergebenen Angehörigen noch hingeschleppt. Sie wollte doch mit dabei sein, wenn Frauen nach langen Kämpfen, an denen sie so lebhaften persönlichen Anteil genommen hatte, ihr Bürgerrecht ausübten, zum ersten Male.“

In der Nacht vom 2. auf den 3. März, um ein Uhr nachts, stirbt Paula Thiede im Beisein ihres Mannes. Obwohl die gesamte Arbeiterbewegung in den revolutionären Märztagen 1919 schwer beschäftigt ist, bleibt Paula Thiedes Ableben alles andere als unbeachtet. In der „Solidarität“ teilt der Verbandsvorstand mit, dass er sich ob der schieren Menge von Kranzsendungen und Beileidsbekundungen außer Stande sehe, „im einzelnen zu danken“.

Trotz erschwerter Anreise („Generalstreik, Verkehrshindernisse, Barrikadenkämpfe in den Straßen Berlins“) halten am 8. März 1919 am Grabe Paula Thiedes einige Weggefährten Abschiedsreden. Kein Schmuck, sondern ein Schwert, so heißt es dort unter anderem, müsse auf das Grab von Paula Thiede gelegt werden, „als Zeichen, daß (Paula Thiede) immer eine tapfere Kämpferin gewesen ist im Befreiungskampfe der Arbeiterschaft“.

Die Spuren der Familie von Paula Thiede verlieren sich nach der Heirat der Tochter Emma Fehlberg mit dem Postassistenten Gustav Wolter im Oktober 1919. Uwe Fuhrmann forscht an der Uni Leipzig zum Thema „Geschlecht und Klasse um 1900“.

Uwe Fuhrmann: „Frau Berlin“ – Paula Thiede (1870–1919). Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden

160 Seiten, flexibler Einband, ISBN 978-3-86764-905-6, UVK Verlagsgesellschaft Konstanz, erscheint voraussichtlich Juni 2019

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„Det se mit dem ganzen Tarifieren Uns jeheerich wollten Baribieren.“