Kaum war Mitte Mai das Urteil aus Luxemburg bekannt, hob im deutschen Arbeitgeberlager heftiges Klagen an: Die Grundsatzentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zugunsten einer exakten Dokumentation der Arbeitszeit abhängig Beschäftigter in allen Ländern der EU wirke „wie aus der Zeit gefallen“, zürnte zum Beispiel die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).

Von der „Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert" und einem „neuen Bürokratiemonster“ war die Rede. Dabei enthält das EuGH-Urteil gar keine detaillierten Vorschriften, sondern überlässt sie der gesetzgeberischen Phantasie und Kompetenz der EU-Mitgliedsstaaten, die aber alle Arbeitgeber verpflichten müssen, „ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“ – eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber bislang EU-weit unterschiedlich und meistens unzulänglich geregelt.

Rechte durchsetzen

Ohne ein solches System, so die Luxemburger Richter*innen weiter, könnten „weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden“. Die Folge laut EuGH: Für die Arbeitnehmer*innen sei es „äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich“, ihre Rechte – etwa aus der Grundrechtecharta der EU – durchzusetzen. Ohnehin seien sie die schwächere Partei im Arbeitsverhältnis.

DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach zeigte sich zufrieden mit der Luxemburger Entscheidung: „Jetzt muss Deutschland eine gesetzliche Grundlage für eine generelle Pflicht zur Arbeitszeiterfassung schaffen.“ Als wegweisend auch für die Arbeit in den Redaktionen der Medien bezeichnete die Vorsitzende der Deutschen Journalist*innen-Union (dju) in ver.di, Tina Groll, das EuGH-Urteil: „Viele jüngere Kolleginnen und Kollegen sind nicht mehr bereit, rund um die Uhr verfügbar zu sein. Das Urteil wird viele darin bestärken, diesen Weg jetzt weiter zu gehen: mit positiven Auswirkungen auf die journalistische Arbeit, die Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf und die Work-Life-Balance“, ist sich die dju-Vorsitzende sicher.

Klage aus Spanien

Ausgangspunkt für den EuGH war eine Klage vor dem Nationalen Gerichtshof in Spanien, mit der die Gewerkschaftskolleg*innen von den Comisiones Obreras (CCOO) bei der dortigen Niederlassung der Deutschen Bank ein System zur Erfassung der geleisteten täglichen Arbeitszeit durchsetzen wollten. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, SPD, stellte in Aussicht, das Urteil rasch umzusetzen. Wirtschaftsminister Peter Altmaier, CDU, kündigte hingegen ein eigenes Rechtsgutachten an, um zu klären, ob das Urteil überhaupt in deutsches Recht umgesetzt werden müsse. ver.di geht davon aus, dass der Luxemburger Richter*innenspruch auch in Deutschland zu einer rechtlichen Klarstellung der Pflicht zur Aufzeichnung von Arbeitszeiten führt und damit seinen Beitrag zur Eindämmung ausufernder Arbeitszeiten leistet. Henrik Müller

Aktenzeichen: C-55/18

Leitkommentar Seite 15