Henrik Müller ist freier Journalist und Autor

Es ist schon erstaunlich, wie es interessierten Kreisen in Wirtschaft, Politik und Medien immer wieder und mit vereinten Kräften gelingt, „die soziale Frage“ von der gesellschaftspolitischen Tagesordnung zu verdrängen und alle möglichen und unmöglichen anderen Themen an der Spitze zu platzieren.

Die soziale Frage: Das ist die zunehmende Verarmung von großen Teilen der Bevölkerung und der öffentlichen Hände auf kommunaler Ebene in einem der reichsten Länder der Welt. Ursache der damit wachsenden Kluft zwischen oben und unten sind vor allem die „Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ vom Anfang des Jahrtausends, insbesondere das menschenunwürdige Hartz-IV-Regime. Zu den fatalen Folgen von materieller und kultureller Hoffnungslosigkeit und erlebtem oder befürchtetem sozialem Abstieg zählt ohne Zweifel das dramatische Abdriften breiter Bevölkerungskreise ins rechte bis rechtsradikale Lager.

Das haben um den letzten Jahreswechsel herum immerhin zwei Parteivorsitzende, Andrea Nahles, SPD, und Robert Habeck von den Grünen, sowie auch Arbeitsminister Hubertus Heil, SPD, erkannt. Sie wollten Hartz IV & Co. radikal „verändern“, „hinter sich lassen“ bzw. noch im Jahre 2019 kräftig „reformieren“. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beeilte sich, nach zweieinhalb Jahren endlich über die Frage zu verhandeln, ob die – im Extremfall vollständige – Kürzung von Hartz-IV-Leistungen gegenüber unbotmäßigen „Kunden“ mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Für die Lösung der vorliegenden sozialen Frage(n) hätten alle, die sie mutig anpacken würden, eine breite gesellschaftliche Mehrheit im Rücken. Aber die Agenda-Parteien wollen sie offenbar immer noch nicht nutzen. Das Jahr 2019 ist fast zu zwei Dritteln vorbei, und weder von Heil und Habeck noch aus Karlsruhe ist Ermutigendes zum Thema Hartz IV zu lesen oder zu hören. Wird es sozialpolitisch erneut ein vertanes Jahr? Düstere Perspektiven.