MHO_1568_o.jpg
Bühne frei für die Negativpreis-VerleihungFoto: Matthias Hornung/photocube.de

Den Termin sollte sich jede*r in seinem Kalender notieren: Wann alljährlich die BigBrotherAwards verliehen werden. An diesem Tag werden Verbraucherinnen und Verbrauchern die Firmen und Organisationen präsentiert, denen man seine Daten auf keinen Fall anvertrauen sollte. Und welche Politikerinnen und Politiker sich nicht um den Datenschutz scheren, auch das erfährt man.

Aufgrund der Corona-Pandemie wurden die Oscars für die schlimmsten Datenkraken und Überwachungsvorgänge in diesem Jahr in Bielefeld im kleinen Kreis verliehen. Interessierte konnten aber virtuell per Livestream dabei sein. Wer das verpasst hat, kann die Aufzeichnung jetzt noch online auf der Homepage anschauen und dort auch die Begründungen für die Vergabe der Awards nachlesen:

bigbrotherawards.de

Ausgehorcht und verraten

Im Organisationsbereich von ver.di gibt es viele Betriebe, die ihre Beschäftigten schlecht behandeln. Darunter auch die Modekette H&M, bekannt für Behinderung von Gewerkschafts- und Betriebsratsarbeit. In Nürnberg aber hat das Unternehmen seinen mangelnden Respekt vor den Rechten der Beschäftigten zuletzt auf die Spitze getrieben. Dort hat die Handelskette jahrelang private Informationen des Personals im H&M-eigenen Callcenter gesammelt und intern weitergegeben. Deshalb bekam die H&M Hennes & Mauritz B.V. & Co.KG in Hamburg, wo sich der deutsche Firmensitz befindet, den BigBrotherAward in der Kategorie "Arbeitswelt" für "jahrelanges, hinterhältiges und rechtswidriges" Erheben und Verarbeiten von persönlichen Beschäftigtendaten, so die Begründung der Jury. Zudem muss das Unternehmen auch ein Bußgeld in Höhe von über 35 Millionen Euro zahlen, wie die Hamburger Datenschutzbehörde nur wenige Tage nach der Preisverleihung bekannt gab. Am 15. Oktober verzichtete H&M auf einen Widerspruch gegen die Strafe, man wolle zahlen und alle Betroffenen entschädigen.

In dem Nürnberger H&M-Callcenter arbeiten 700 Menschen. Sie betreuen die Kundinnen und Kunden des Unternehmens in Deutschland und Österreich. Wie überall gab es kleine Privatgespräche in den Pausen. Doch in der Unternehmensführung bestand nicht nur ein Interesse an den Wünschen, Bedürfnissen und Problemen der Käuferinnen und Käufer, sondern auch an privaten Informationen über die Beschäftigten. In dem Kundenzentrum gab es einen Computer-Ordner, der Führungskräften und Teamleitern zugänglich war und in dem die gesammelten Daten detailliert und systematisch erfasst wurden.

"Dort war etwa zu lesen, wie es um Beziehungen von Beschäftigten bestellt war, mit welchen Partnern sie gerade eine Nacht verbracht hatten, wo es gerade einen Ehekrach gab oder wo eine Scheidung anstand", berichtete Peter Wedde, Professor für Arbeitsrecht und Recht der Informationsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences, in seiner Laudatio für die Vergabe des Awards. Familiäre Streitigkeiten oder Todesfälle im Familien- oder Bekanntenkreis waren in den Auflistungen gleichermaßen zu finden wie Informationen, ob Urlaube erholsam waren oder aufgrund persönlicher Probleme eher anstrengend, oder welche Krankheiten die Beschäftigten hatten.

"Wäre ich Kunde dieses Unternehmens, würde mich eine solche Situation beunruhigen."
Peter Wedde, Professor für Arbeitsrecht und Recht der Informationsgesellschaft an der Frankfurt University of Applied Sciences

Die Informationen waren von Teamleitungen und anderen Vorgesetzten aus den "gemeinsamen Plauderrunden in den Büroräumen oder in Raucherpausen" zusammengetragen worden, die gewonnenen Erkenntnisse in detaillierten digitalen Notizen festgehalten und der gesamten Leitungsebene von H&M zugänglich gemacht worden. Aufgeflogen ist das, als die personenbezogenen Dossiers plötzlich im internen Netz frei zugänglich waren. Das spreche dafür, dass es bei H&M auch um den technischen und organisatorischen internen Datenschutz nicht durchgängig gut bestellt sei, sagte Peter Wedde. "Wäre ich Kunde dieses Unternehmens, würde mich eine solche Situation beunruhigen."

Der Kontrollwahn im Callcenter von H&M ist allerdings auch kein Einzelfall. In der Callcenter-Branche ist längst bekannt, dass sich eine Reihe von Unternehmen nicht an die arbeits- und datenschutzrechtlichen Vorgaben hält. Callcenter-Beschäftigte werden immer wieder mittels spezialisierter Software überwacht. Dafür hat es bereits mehrfach BigBrotherAwards gegeben, wie zum Beispiel 2014 für eine Tochter von RWE, die Mausklicks und Tastendrucke erfasste, oder 2019 für die Stimmanalysesoftware der Firma Precire.

Überwachungsgesetze gekippt

Der Jury, die den Datenschutz-Negativpreis verleiht, gehören bekannte Bürgerrechtler*innen an; darunter Rena Tangens, Künstlerin, Internet-Pionierin und Vorstand von Digitalcourage e.V.. Sie hat den Verein, damals noch FoeBuD, mitgegründet. Digitalcourage setzt sich seit 1987 für eine lebenswerte Welt im digitalen Zeitalter ein, die BigBrotherAwards werden seit 2000 verliehen.

Für Ihre Arbeit wurde Rena Tangens vielfach ausgezeichnet, etwa als Persönlichkeit des Verbraucherschutzes 2015. Zur Wirkung der BigBrotherAwards sagt sie: "Sie bewegen etwas. Sie haben Schnüffeltechnologien ausgebremst, Überwachungsgesetze gekippt, Datenkraken-Firmen haben durch sie Aufträge verloren und Vergaberichtlinien für öffentliche Aufträge wurden geändert. Schließlich wirken die BigBrotherAwards auch präventiv: Wir wissen, dass in Führungsetagen von Konzernen über uns gesprochen wird und deshalb so manches Datensammelvorhaben gar nicht erst gestartet wird. Dafür lohnt jede Anstrengung."

BigBrotherAwards 2020: Noch mehr Negativpreise

Mobilität Der Autohersteller Tesla, vertreten durch die Tesla Germany GmbH, München, hat den Negativpreis dafür bekommen, dass sie Autos verkaufen, die ihre Insassen und die Umgebung des Autos überwachen und die Daten für weitere Zwecke nutzbar machen.

Behörden und Verwaltung Der Innenminister des Landes Brandenburg, Michael Stübgen, CDU, und sein Vorgänger, Karl-Heinz Schröter, SPD, haben den BigBrotherAward für die dauerhafte Speicherung von Autokennzeichen bekommen.

Bildung Die Firma BrainCo wurde für ihre EEG-Stirnbänder ausgezeichnet, die Gehirnströme messen können und die Konzentration von Schülerinnen und Schülern überwachen sollen. In den USA und China wird die Technik bereits in Klassenzimmern eingesetzt. Weiterer Preisträger ist der Leibniz-Wissenschaftscampus Tübingen, der eine ähnliche Technik in Deutschland erprobt, kombiniert mit Eyetracking. Das sei Dressur statt Bildung, befand die Jury.

Politik Die Bundesregierung (CDU/CSU-SPD) hat den Award bekommen wegen ihrer rechtlichen und politischen Mitverantwortung für den völkerrechtswidrigen US-Drohnenkrieg, der über die Datenrelais- und Steuerungsstation der US-Militärbasis Ramstein/Pfalz abgewickelt wird. Bei den Drohneneinsätzen kommt es zu illegalen Hinrichtungen angeblicher Terroristen im Nahen und Mittleren Osten, bei denen regelmäßig auch unbeteiligte Zivilpersonen Opfer werden.

Digitalisierung Der Award ging an die Bildungsministerin des Landes Baden-Württemberg, Susanne Eisenmann, CDU, weil sie wesentliche Dienste der Digitalen Bildungsplattform des Landes von Microsoft betreiben lassen will. Damit liefere sie die Daten und E-Mails auch an das US-Unternehmen und die US-Geheimdienste aus, so das Urteil der Jury.

Geschichtsvergessenheit Die Innenministerkonferenz der Bundesrepublik Deutschland erhielt den Award 2020 für die Absicht, auf der Basis der Steuer-Identifikationsnummer eine lebenslang gültige Personenkennziffer einzuführen. "Derartige Personenkennziffern wurden in den zwei Diktaturen auf deutschem Boden – im Nazideutschland und in der DDR – zur Erfassung, zur Repression bis hin zur Vernichtung genutzt. Sie widersprechen dem Geist des Grundgesetzes", begründete die Jury.

Datenschutz: Keine Daten auf Vorrat

Am 6. Oktober hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EU) für die gesamte EU richtungsweisende Entscheidungen zu vier Rechtsstreits über die Vorratsdatenspeicherung von Telefon- und Internetdaten veröffentlicht. Demnach ist eine generelle und anlasslose Vorratsdatenspeicherung illegal.

Im Vorfeld hatten Regierungen von EU-Mitgliedsländern, darunter auch Deutschland, sowie die EU-Kommission mit Blick auf das anstehende Urteil angekündigt, nach neuen Mitteln und Wegen zu suchen, um die Verbindungsdaten von Telefon und Internet aller EU-Bürger*innen ohne Anlass möglichst lückenlos zu speichern.

Der Verein Digitalcourage und über 40 Nichtregierungsorganisationen aus 16 Ländern fordern deshalb in einem offenen Brief unter anderem ein europaweites Verbot von anlassloser Telekommunikationsüberwachung. "Das heutige Urteil bedeutet: Auch das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verletzt EU-Grundrechte", sagt Friedemann Ebelt von Digitalcourage. "Denn Kommunikationsdaten pauschal von allen Bürgerinnen und Bürgern auf Vorrat zu sammeln, ist illegal. Wir wollen jetzt, dass diese Selbstverständlichkeit endlich von Regierungen ernst genommen und umgesetzt wird." Der Standard in Demokratien müsse lauten: keine Vorratsdatenspeicherung!