Ausgabe 08/2020
Alle Hühneraugen zugedrückt
Die Pleite von Wirecard ist ein Krimi: Jahrelang hat der einstige DAX-Konzern vorgetäuscht, dass er einzigartige Finanzdienstleistungen im Internet anbiete. Wie das angebliche Geschäft in Asien laufen sollte, verstand zwar niemand – aber dieses Rätselraten schien zu bestätigen, dass es sich um ein völlig neuartiges Gewerbe handeln müsse. Banken und Aktionäre waren daher willig, Milliarden in einen Konzern zu investieren, der fast nur aus Luftbuchungen bestand. Im Rückblick stellt sich die Frage, warum dieser Betrug nicht früher aufgeflogen ist. Versagt haben vor allem die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young, EY, die zehn Jahre lang die Wirecard-Bilanz kontrollierten. Sie haben nichts bemerkt, obwohl der Schwindel leicht zu entdecken gewesen wäre: Die Wirecard-Manager haben fiktive Vermögen erfunden, um Verluste zu kaschieren und echtes Geld auf ihre Privatkonten umzuleiten. Am Ende beliefen sich die Phantasiebeträge auf 1,9 Milliarden Euro, die auf ausländischen Konten lagern sollten. Die Wirtschaftsprüfer hätten mühelos kontrollieren können, ob es dieses Geld gab – indem sie Überweisungen auf EY-Konten veranlassten. Zur Probe. Wenn kein Geld fließt, wäre klar gewesen, dass Wirecard kein Vermögen hat. Doch EY hat alle Hühneraugen zugedrückt, um den lukrativen Prüfauftrag nicht zu verlieren.
Es ist nicht harmlos, wenn Wirtschaftsprüfer versagen. Denn sie sind die Einzigen, die alle wichtigen Kontobewegungen nachvollziehen können. Alle anderen verlassen sich auf die testierten Bilanzen: die Aktionäre, die Banken – aber auch die Finanzaufsicht Bafin und die Bundesregierung. Seit 2008 gab es Gerüchte, dass Wirecard Gewinne erfindet. Zuletzt war es die Financial Times, die ab Januar 2019 mehrfach darlegte, dass das angebliche Asiengeschäft nicht existierte. Aber diese Meldungen wurden nicht geglaubt, weil EY-Wirtschaftsprüfer jedes Jahr bestätigten, dass die Bilanzen tadellos seien. Erst im Juni 2020 stellte sich heraus, dass Wirecard völlig überschuldet war.
Das eklatante Versagen der Wirtschaftsprüfer spielt in der öffentlichen Debatte jedoch kaum eine Rolle. Für die Opposition im Bundestag ist es weitaus interessanter, die Schuld bei der Bundesregierung zu suchen. Es wird der Eindruck erzeugt, als wären Finanzminister Olaf Scholz, SPD, oder Kanzlerin Angela Merkel, CDU, die eigentlichen Wirtschaftsprüfer der Nation – als müssten sie sich darum kümmern, was sich in den Bilanzen von DAX-Unternehmen abspielt. Die Vorwürfe gegen Merkel sind besonders absurd. Ihr wird angelastet, dass sie im September 2019 auf einer Chinareise Werbung für Wirecard gemacht habe. Was stimmt: Sie hat den DAX-Konzern in Peking kurz erwähnt. Aber das bedeutete gar nichts. Andere Firmenchefs durften die Kanzlerin persönlich nach China begleiten; unter anderem waren die Allianz, Siemens, Airbus und die Post vor Ort. Elf Verträge wurden damals abgeschlossen, um deutschen Firmen neue Möglichkeiten in China zu eröffnen. Doch Wirecard war nicht dabei. Das Kanzleramt hat den DAX-Konzern nicht etwa gefördert – sondern weitgehend ignoriert.
Es stellt sich die Frage, wie sich ein ähnlicher Betrug künftig verhindern lässt
Die Opposition weiß, dass es schwierig wird, der Regierung Versagen nachzuweisen. Aber es gibt ja noch die Finanzaufsicht Bafin, die dem Finanzministerium direkt untersteht. Es ist nicht zu leugnen: Die Bafin hat beim Thema Wirecard keine glückliche Figur abgegeben. Unter anderem ist die Finanzaufsicht ausgerechnet gegen die Journalisten der Financial Times vorgegangen – und hat sie wegen "Marktmanipulation" angezeigt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Bafin nur höchst eingeschränkt zuständig war und dass ihr die gesetzlichen Möglichkeiten fehlten, um einem Betrug forensisch nachzuspüren. Doch unbeirrt hat die Opposition inzwischen einen Wirecard-Untersuchungsausschuss durchgesetzt, der ziemlich überflüssig ist. Grüne, Linke und FDP sprechen zwar davon, dass sie "noch mehr" Zeugen befragen und "noch mehr" Akten einsehen wollen. Doch diese zusätzlichen Befragungsrunden werden keine neuen Erkenntnisse zutage fördern: Die Bundesregierung wusste von nichts – und war auch nicht zuständig.
Natürlich muss die Politik auf den Wirecard-Skandal reagieren. So stellt sich die Frage, wie sich ein ähnlicher Betrug künftig verhindern lässt, und wie die Arbeit der Wirtschaftsprüfer besser wird. Eine Idee: Man könnte Whistleblower belohnen, damit sich kritische Insider frühzeitig an die Behörden wenden. Aber um derartige Vorschläge zu diskutieren, würden Anhörungen im regulären Finanzausschuss völlig reichen. Ein Untersuchungsausschuss ist dafür nicht nötig.
Hintergrund: Wie sich die Wirecard-Beschäftigten organisieren